„Kapitalmärkte sind ein Nullsummenspiel – auch mit KI-Einsatz“

Mittelfristig droht Versicherern eine Personal-Unterdeckung von über 20 Prozent im Bereich Kapitalanlage. Ob man das durch einen KI-Einsatz besser managen und die Verluste beim Trading in Zukunft begrenzen kann? Dieser und anderer Fragen widmete sich das Symposium der Forschungsgesellschaft (FOG) „Geld – Banken – Bausparkassen – Versicherungen“ am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) e. V. Antworten lieferten u.a. die Vermögensverwalter Günter Jäger und Andreas Sauer sowie zwei prämierte Abschlussarbeiten.
Innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre wird ein signifikanter Teil der sogenannten Babyboomer-Generation in den Ruhestand treten. Die nachrückenden Jahrgänge sind zu klein, um diese Lücke vollständig zu schließen. Noch sehen sich viele Versicherer personell gut aufgestellt – doch der Blick in die Zukunft ist ernüchternd: Laut einer neuen Studie der V.E.R.S. Leipzig in Zusammenarbeit mit der Strategieberatung Roland Berger drohen mittelfristig Unterdeckungen von über 20 Prozent im Bereich Kapitalanlage, neun Prozent in der IT sowie 9 Prozent in der Bestandsbearbeitung. Im Schadenmanagement sind es drei Prozent Unterdeckung, VWheute berichtete. Insbesondere der Kapitalanlagebereich und der Bereich IT sind die „Sorgenkinder“ der Branche, da hier viel mathematisches und technisches Know-how benötigt wird, um das sowohl innerhalb der Branche als auch von der Versicherungsbranche mit anderen Industrien gebuhlt wird. Kann KI hierbei aushelfen, fragte der ehemalige GDV-Präsident Bernhard Schareck (Foto) die Referenten auf dem Symposium der Forschungsgesellschaft (FOG) „Geld – Banken – Bausparkassen – Versicherungen“ am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) e. V.

„Ich glaube, dass gerade im Versicherungsbereich ganz viele Dinge durch KI in Zukunft effizienter gemacht werden können“, lautete die Antwort von Andreas Sauer von Ansa Capital Management. „Bei KI denkt man gleich daran, dass die Maschine die Fähigkeiten des Menschen nachbilden sollte. Aber das ist im Anlagemanagement keine gute Idee, weil Menschen darin schlecht sind“, urteilte Sauer. „Wenn der liebe Gott gewollt hätte, dass wir gute Portfolio-Manager wären – das kann ich Ihnen nach 30 Jahren Erfahrung sagen –, dann hätte er uns andere Fähigkeiten mitgegeben.“ In seinem Vortrag widmete er sich der „einen“ Formel, die alle lösen (siehe Grafik im Bild) wollen, wenn es um die Geldanlage geht.
Wie viele teilt er die Meinung, dass LLM-Modelle wie ChatGPT Gamechanger für das Asset Management seien. „Das wesentliche Neue ist, dass wir zum ersten Mal mit einer Maschine wie mit einem Menschen kommunizieren können. Dass wir 40 Jahre lang Tastatur und Maus hatten, ist eigentlich völlig verrückt. Der Mensch kommuniziert durch Sprache und durch Text und nicht durch Tastatur und Maus. Und das Besondere ist, dass die Maschine mit künstlicher Intelligenz zum ersten Mal in der Lage ist, das, was wir einfach von Natur aus gut können, noch besser zu machen und relativ schnell zu machen. Und das wird die Welt verändern.“

Dass man mit dem KI-Einsatz kaum noch Verluste an der Börse macht, sei eine Illusion. „Wenn man früher eine Trefferquote von 53 zu 47 Prozent hatte, da war das schon extrem gut. Heute haben wir vielleicht eine von 55 zu 45 Prozent, aber wir irren uns immer noch in 45 Prozent der Fälle.“ Er fügte hinzu, dass für große Vermögensverwalter es ungemein schwerer sei, eine gute Performance hinzulegen. Je mehr verwaltetes Milliardenvermögen, desto schwieriger sei es, eine gute Rendite zu erzielen. Dass Asien möglicherweise einen Vorsprung beim KI-Einsatz habe, verneinte er.
Günter Jäger ergänzte, dass auch mit einem KI-Einsatz die Kapitalmärkte ein Nullsummenspiel seien. Für jeden Gewinner gibt es einen Verlierer. Jäger gründete 2006 Plexus Investments. Das Unternehmen sitzt in Liechtenstein und bezeichnet sich als klassisches OCIO – Outsourced Chief Investment Officer. Plexus verwaltet Familienvermögen nach dem Endowment-Modell erfolgreicher US-Universitäten wie Stanford und Yale. 2019 entwickelte Plexus den AI-Outperformance-Index, um die Leistungsfähigkeit von KI-basierten Strategien im Asset Management sichtbar zu machen. Der Index misst den Anteil der Strategien, die ihre jeweilige Benchmark über mehrere Zeiträume schlagen – ein transparenter Indikator für den Nutzen von KI im Investmentprozess. Bei KI-Strategien kann man laut Günter zwei Formen unterscheiden: „Evolutionär“ meint, dass KI-Fonds-Manager meist aus der Finanzbranche bestehende Strategien weiterentwickeln, von oder unterstützt von einem größeren Institut. Die „revolutionäre“ Herangehensweise bedeutet, dass KI-Fonds-Manager meist auf der Hochschule/Universität mit einer Strategieentwicklung auf „weißem Papier“ beginnen. Dazu zählen auch Start-ups oder Personen, die keine Erfahrung aus der Finanzbranche mitbringen. Bahnbrechende Innovationen stammen meist von Branchenneulingen, Günter führt Elon Musk hier als Beispiel auf. „Das heißt, Disruption findet nicht evolutionär statt, sondern sehr oft revolutionär.“

Auch bei den Daten könne man zwei Herangehensweisen erkennen: Klassische strukturierte Daten und alternative Daten wie Standortdaten. Die unterschiedlichen Ansätze lassen sich in einer Grafik abbilden und für Jäger sind die Performer der „Wild Card“ am interessantesten, weil sie Outsider sind und alternative Daten verwenden. Zusammengefasst zeigen seine Untersuchungen, dass der AI-Outperformer Ratio von Plexus bei 44 Prozent lag. Fast jede zweite Strategie schlug damit ihre jeweilige Benchmark.
„Abschlussarbeiten waren ihrer Zeit voraus“
Die 1983 gegründete Forschungsgesellschaft FOG hat das Ziel, wissenschaftliche Beiträge, innovative und frische Ideen zu fördern. So erhalten etwa junge Studenten eine Auszeichnung für besondere Leistungen. Am von Prof. Dr. Maxim Ulrich geleiteten Lehrstuhl Financial Economics and Risk Management haben gleich zwei Studenten preiswürdige Abschlussarbeiten abgeliefert. Der Preis stammt vom Verein Versicherungswirtschaft e.V., die Laudatio hielt der ehemalige GDV-Präsident Bernhard Schareck. Timo Storz war virtuell dabei, Elian Hetzer war vor Ort, beide erhielten ein Preisgeld in Höhe von 1.500 Euro.
Beide Arbeiten, die die Jury ausgesucht hat, wurden bereits 2022 abgeschlossen. Warum kommt dann der Preis drei Jahre später? Das hat Schareck Professor Ulrich auch gefragt und bekam die einfache Antwort: weil sie beide ihrer Zeit voraus waren. „Der von beiden validierte Datensatz, basierend auf Milliardenhandelsdaten, wird heute von Doktoranden und Forschern am KIT genutzt und künftig auch in der Lehre eingesetzt“, betonte Schareck. „Die Umsetzung der Arbeit von einem Storz in die Praxis eröffnet uns Versicherern neue Möglichkeiten in der Kapitalanlage der Solvabilitätssteuerung und der Risikoaggregation.“ Hetzer übernahm die technische Grundlage von Storz und entwickelte sie entscheidend weiter.

Storz arbeitet aktuell als Senior Consultant im Bereich AI und Data bei Deloitte mit Schwerpunkt in Versicherungsprojekten. Hetzer ist Fondsmanager bei der Helaba Invest und fasste nochmal die Kernpunkte seiner Abschlussarbeit („Intraday Volatility Modeling with applications to the ECB Meeting“) für das Publikum zusammen. Die Arbeit untersucht, wie sich implizite Volatilitäten und daraus abgeleitete Risikomaße innerhalb eines Handelstags (Intraday) verändern, insbesondere im Zusammenhang mit Pressekonferenzen der Europäischen Zentralbank (EZB). Während Volatilitätsdaten häufig nur auf Tagesbasis verfügbar sind, zielt die Arbeit darauf ab, die intraday Dynamik sichtbar zu machen.


Auch aktuelle Doktorarbeiten wurden thematisiert, wie die von Alexander Walter (externer Doktorand am Lehrstuhl von Professor Ulrich), der derzeit zu 50 Prozent als IT Business Consultant bei der LBBW arbeitet. Sein Projekt untersucht den Mehrwert optionsimpliziter Daten (z. B. aus Optionspreisen berechnete Wahrscheinlichkeitsverteilungen) im Vergleich zu klassischen Equity-Faktoren. Zur Auswahl relevanter Faktoren wird das maschinelle Lernalgorithmus (LASSO) verwendet. Die Kernergebnisse seiner wird Walter im nächsten Jahr präsentieren.

An was die akademische Forschung allgemein arbeitet, fasste Mathis Moerke von der Universität St. Gallen zusammen und legte dabei den Schwerpunkt auf Machine Learning (findet bereits vielfältige Anwendung in der Finanzwelt z. B. Renditeprognosen, Kausalanalysen, Risikomanagement) zur Modellierung von Anlegermeinungen in der Finanzforschung.

Schon etwas länger her schrieb Peter Krauthausen seine Abschlussarbeit. Vor 15 Jahren arbeitete er im Bereich Stochastik bei einer Schweizer Großbank. Er gründete die Firma Gradient Systems Limited in Cambridge für AI-only Investmentprodukte. Er umriss die Herausforderung bei der Umsetzung von KI-gesteuerten Portfolios, u.a. die technische, regulatorische und operationelle Komplexität und die fehlende Automatisierung. Seine Plattform ermöglicht es Portfolio-Managern, quantitative Investmentstrategien mit KI selbstständig zu verwalten. Alles ohne tiefen IT-Aufwand oder eigenes KI-Team. Das führt zu Zeitersparnis und höherer Flexibilität für Asset Manager und hat eine besondere Relevanz bei volatilen Märkten und geopolitischen Ereignissen (z. B. Trump-Wahl, China/Taiwan). Sein Fazit: KI im Asset Management ist technisch möglich – aber organisatorisch, operationell und rechtlich herausfordernd.

Dr. Dag Tanneberg ist schon fast ein Dauergast beim Symposium. Er ist Senior Manager bei Ebner Stolz, einem Prüfungs- und Beratungsunternehmen mit über 400 Mio. Euro Umsatz. Damit ist die Firma gemäß Lünendonk & Hossenfelder der fünftgrößte deutsche Wirtschaftsprüfer nach PwC, KPMG, EY und Deloitte. Zu Beginn stellte Tanneberg die zentrale Frage: Wie lassen sich anspruchsvolle statistische Analysen mit nur rund 2.000 Datenpunkten durchführen? In der Wirtschaftsprüfung ist man normalerweise größere Datensätze gewöhnt. Seine Mandanten stehen unter zunehmendem Innovationsdruck. Digitalisierung, Automatisierung und der Einsatz von KI sind keine optionalen Trends mehr, sondern konkrete Anforderungen. Mandanten erwarten zunehmend den Einsatz digitaler Tools und KI bei:
- Prüfung einzelner Geschäftsvorfälle
- Vollständig digitalem Datenaustausch
- Prüfung von Haupt- und Nebenbüchern sowie der automatisierten Berichtserstellung
Oft werden seiner Einschätzung nach klassische, regelbasierte Analysen fälschlicherweise als KI bezeichnet. Tatsächlich geht es bei KI um Systeme, die aus Daten selbstständig Entscheidungsregeln ableiten. Aber: Nicht jeder digitaler Prozess ist automatisch ein guter Prozess – der KI-Einsatz muss durchdacht erfolgen.
Drei Kernstrategien hat sein Unternehmen mit KI herausgefiltert. Standardisierung: Einheitliche Datenanforderungen sorgen für konsistente und vergleichbare Prüfungen. Zentralisierung: Datenaufbereitung wird zentral durch Experten übernommen – keine individuelle „Excel-Kunst“ mehr. Automatisierung: 75 Prozent der Prüfungen erfolgen bereits mit automatisierter Datenaufbereitung. Auch die Auswahl von Stichproben und risikobehafteten Transaktionen wird KI-gestützt automatisiert.

RSM arbeitete mit Tools wie DataSnipper (vergleicht u.a. automatisch Buchungsdaten mit den zugehörigen Belegen. Das spare Zeit bei der manuellen Dokumentenprüfung) oder Notes Auditor (analysiert u.a. den schriftlichen Anhang des Jahresabschlusses, erkennt Zahlendiskrepanzen, prüft Vollständigkeit und dokumentiert Änderungen über Zeit hinweg). Diese Tools sind jedoch teuer, spezialisiert und bieten keinen Wettbewerbsvorteil, da sie branchenweit verbreitet sind. Deshalb wurde u.a. „RSM Enterprise GPT“ entwickelt, eine ChatGPT-ähnliche Oberfläche auf Basis von OpenAI in der Azure-Cloud.
Autor: David Gorr