Insurance-Chefs von Roland Berger: „Versicherer sehen sich mit größerer Verhandlungsmacht der Vertriebspartner konfrontiert“

Claudia Fell ist Senior Partner & Head of Insurance DACH bei Roland Berger; Christian Schareck ist Senior Partner & Global Co-Head Insurance bei Roland Berger (Bildquelle: Roland Berger)
Die Strategieberatung Roland Berger greift im Versicherungsgeschäft an und holte dafür die ausgewiesenen Experten Claudia Fell und Christian Schareck. Im Exklusiv-Interview mit VWheute sprechen beide über die effizientere und zukunftsfähigere Aufstellung des Vertriebs, Maßnahmen zur Schließung der Nachwuchslücke in der Ausschließlichkeit und welche Rolle künstliche Intelligenz dabei spielt.
VWheute: Die Zahl der Versicherungsvertreter und -makler geht zurück. Führt diese Entwicklung zu einer Konsolidierung des Markts, und welche Folgen hat sie für die einzelnen Marktteilnehmer – positiv wie negativ?
Claudia Fell: Bedingt durch demografische Entwicklung und Nachwuchsprobleme werden Vertriebsressourcen generell knapper. Zusätzlich ist ein Konsolidierungstrend zu beobachten. Dies geschieht im Maklerkanal durch die Verschmelzung von Maklerfirmen und Portfolioverkäufen sowie durch den Anschluss von Einzelmaklern an Pools und Verbünde. Auch in der AO gibt es einen Trend hin zu größeren Agenturen oder Agenturverbünden, denen sich einzelne Agenten oder Untervertreter anschließen. Versicherer sehen sich daher mit größerer Verhandlungsmacht der Vertriebspartner und in bestimmten Sparten mit zunehmender Abhängigkeit von wenigen, großen Partnern konfrontiert.
Unter Profitabilitätsgesichtspunkten wird die Situation für die VU dadurch schwieriger. Sie sollten sich daher gezielt überlegen, wie und wo sie differenzierten Mehrwert liefern können, und sich konsequent auf die betreffenden Maklersegmente konzentrieren. Es gilt, jetzt die richtigen Entscheidungen zu treffen. Hierfür braucht es transparente Einblicke in die Profitabilität einzelner Verbindungen sowie den Mut, schwierige Entscheidungen zu treffen.
VWheute: Selbst große Versicherer haben Nachwuchsprobleme in der AO. Welche Technik sollten besonders kleine und mittlere Versicherer für die Schließung dieser Lücke nutzen?
Claudia Fell: Es gibt sicher nicht die eine Maßnahme oder Technik zur Schließung der Nachwuchslücke. Vielmehr sollten die Versicherer generell in die Effizienz- bzw. Effektivitätssteigerung sowie in die Digitalisierung ihres Vertriebsmodells investieren, um perspektivisch auch mit weniger Ressourcen die gleiche oder eine größere Anzahl von Kunden adäquat beraten zu können. Besonders kleine und mittlere Versicherer sollten mithilfe von Szenario-Analysen bewerten, in welchem Umfeld beispielsweise Investitionen in den AO-Ausbau unter dem Gesichtspunkt von Größe und Profitabilität noch sinnvoll sind und ab wann eine Unterstützung durch zentrale Einheiten oder sogar eine Orientierung hin zu alternativen Vertriebswegen sinnvoller ist.
Ein erster Schritt könnte darin bestehen, eine kleiner werdende AO durch zentrale Vertriebseinheiten unterstützen zu lassen. Diese könnte einfache Geschäftsvorfälle in den Agenturbeständen remote/digital übernehmen, um eine regelmäßige Beratung und sinnvolle Absicherung der Kunden zu gewährleisten und gegebenenfalls eine qualifizierte Überleitung zu den Agenturen zu organisieren.
Claudia Fell hat International Business and Cultural Studies an der Universität Passau studiert und in diesem Rahmen Aufenthalte an der Australian National University Canberra sowie der Universitas Pendidikan Indonesia in Bandung (Indonesien) absolviert. Seit über 20 Jahren berät sie Versicherer, vor allem wenn es um Wachstums- und Vertriebsstrategien, Steuerung und Lieferung großer Transformationsprojekte, Organisational Effectiveness und digital unterstützter Kundenzentrierung geht. 17 Jahre davon verbrachte sie bei der Oliver Wyman, die Strategieberatungstochter von Marsh & McLennan Companies. Danach war sie drei Jahre bei KPMG tätig. Seit Anfang 2023 ist Claudia Fell Senior Partner & Head of Insurance DACH bei Roland Berger.
VWheute: Welcher Vertriebsweg ist der profitabelste, und welche Rolle spielt die unterschiedlich hohe Profitabilität bei der Vertriebssteuerung?
Christian Schareck: Eine pauschale Aussage zum profitabelsten Vertriebsweg ist nicht möglich, da dies von Versicherer zu Versicherer variiert. Die Profitabilität wird durch Produktmix, Pricing der Produkte, Provisionen/Courtagen, Service- und Unterstützungsleistungen ebenso beeinflusst wie durch Overhead-Strukturen, Schäden und das Zusammenspiel all dieser Faktoren. Auch das Produktionsvolumen spielt hier eine wichtige Rolle.
Allerdings sind derzeit nicht alle Versicherer in der Lage, die Profitabilität ihrer Vertriebswege (über die Schadenquote hinaus) in vollem Umfang zu analysieren und diese Erkenntnisse in die Angebotsgestaltung für den Vertriebsweg sowie in die Steuerung einfließen zu lassen. Transparenz ist jedoch notwendig, um Optimierungspotenziale zu realisieren, und sollte daher systematisch geschaffen werden.
VWheute: Welcher Vertriebsweg hat aus Ihrer Sicht das meiste ungenutzte Potenzial, und welche Gründe sehen Sie hierfür? Was könnte man dort besser machen?
Christian Schareck: Prinzipiell besteht in allen Vertriebskanälen noch Potenzial für mehr Volumen und höhere Profitabilität. Aktuell haben wir insbesondere die Entwicklung des Kooperationsvertriebs im Blick. Hier gibt es erhebliches Potenzial, das noch nicht ausgeschöpft ist. Kooperationen werden vor allem dann interessant, wenn es neben dem Verkauf von Embedded Insurance auch gelingt, die gewonnenen Kunden auf weitere Versicherungsbedarfe anzusprechen und so zu Mehrvertragskunden zu machen. Dies kann über den Kooperationspartner und dessen Infrastruktur erfolgen. Dabei können neben der AO auch Callcenter, Kundenportale und Apps eine entscheidende Rolle spielen. Idealerweise gelingt es, das Zusammenspiel aller Kanäle in einem ausgewogenen Omnikanalkonzept zu orchestrieren, das den Kunden da abholt, wo er gerade steht.
Christian Schareck ist Senior Partner & Global Co-Head Insurance bei Roland Berger. Er verfügt über mehr als 23 Jahre Erfahrung in der Beratung von nationalen und internationalen Versicherungsunternehmen zu strategischen und operativen Fragestellungen. Seine Expertise liegt insbesondere in den Bereichen Unternehmens- und Produktstrategie, Transformation von Geschäftsmodellen sowie kundenzentrierte Vertriebsausrichtung. Vor seinem Einstieg bei Roland Berger leitete Christian das deutsche Versicherungsgeschäft bei KPMG. Er hält ein Diplom in Betriebswirtschaft von der Universität zu Köln und promovierte an der Universität Leipzig.
VWheute: Steigt die Bedeutung von Vergleichsportalen oder breit aufgestellten Maklern angesichts der zunehmenden Technologisierung des Marktes?
Claudia Fell: Die zielgerichtete Nutzung technologischer Möglichkeiten wird das Kundenerlebnis in allen Kanälen verbessern und alle Vertriebswege positiv beeinflussen, da neue Technologien als Enabler von effizienten Prozessen und passgenauen Lösungen für Kunden genutzt werden können. Eine entscheidende Rolle wird dabei die Digitalisierung bestehender Prozesse, aber auch die Nutzung künstlicher Intelligenz spielen.
Um von diesem positiven Trend profitieren zu können, sollten für jeden Vertriebsweg individuelle Lösungen entwickelt werden. Die Makleranbindung sollte z. B. technologisch so gestaltet werden, dass sie ein dynamisches Pricing unter Berücksichtigung des Wettbewerbs ermöglicht. In der AO kann Technologie dazu beitragen, dass der Vermittler möglichst viel Zeit in Kundengesprächen verbringt, indem Vor- und Nachbereitung weitgehend automatisiert erfolgen. Auch Vergleichsportale können die zunehmende Digitalisierung für sich nutzen, um innerhalb kürzester Zeit passgenaue Angebote zu erstellen und dabei immer weniger Kundendaten direkt abzufragen, da die Informationen aus anderen Quellen bezogen werden.
VWheute: Jeder spricht von ChatGPT. Sehen Sie Einsatzmöglichkeiten im Vertrieb?
Claudia Fell: Generative KI bietet – genau wie andere Formen künstlicher Intelligenz – vielfältige Einsatzmöglichkeiten auch im Vertrieb. Wie die genaue Ausgestaltung aussehen wird, bleibt abzuwarten. Denkbar sind aber Anwendungsfälle vom Self-Service für Kunden über die Vertriebsunterstützung für Agenten bis hin zu Produktempfehlungen auf Vergleichsportalen. KI kann den Vermittler z. B. durch das Sammeln, Bereitstellen und Auswerten relevanter Informationen zum betreffenden Kunden und seinem Versicherungsbedarf entlasten und zudem Vorschläge zu passenden Versicherungslösungen erstellen. KI kann darüber hinaus Hinweise auf zusätzliche Produkte geben, die logisch zum Primärbedarf des Kunden passen und die der Vermittler ansprechen sollte, um den Kunden vollumfänglich abzusichern. Sie hat somit das Potenzial, auch im AO-Vertrieb die Betreuung und zielgerichtete Beratung von Kunden zu vereinfachen. Für einen flächendeckenden Einsatz wird es entscheidend sein, etwaige Risiken, die sich aus dem Einsatz von KI z. B. für die Korrektheit und Sicherheit von Daten ergeben, zu verstehen, aktiv anzugehen und zu mitigieren.
Es wird interessant sein zu sehen, wie Unternehmen das Spannungsfeld meistern werden, das zwischen der „Test and learn“-Philosophie und der Notwendigkeit besteht, Anwendungsfälle ausreichend zu testen, um Akzeptanz bei Vermittlern und Kunden sicherzustellen. Auch dürfte es künftig neue Regulierungsinitiativen rund um künstliche Intelligenz geben, die bei der Entwicklung von Anwendungsfällen berücksichtigt werden müssen.
VWheute: Welche Themen stehen bei Ihren Projekten und Diskussionen aktuell im Mittelpunkt, wenn es um Beratungsunterstützung im Vertrieb geht?
Christian Schareck: Naturgemäß variieren die diskutierten Themen sehr stark und decken ein breites Spektrum ab. Konkrete Themenfelder, die derzeit verstärkt im Fokus stehen, betreffen insbesondere die effizientere und zukunftsfähigere Aufstellung des Vertriebs. Hierzu zählen sowohl die Orchestrierung der Vertriebswege, z. B. im Rahmen von Omnikanalansätzen als auch die Effektivitätssteigerung innerhalb der Vertriebswege, z. B. durch den Einsatz digitaler Unterstützungstools oder die Schaffung spezifischer Remote-Vertriebseinheiten.
Auch der Umgang mit dem demografischen Wandel ist oft Gegenstand unserer Gespräche. Dabei geht es sowohl um die Kundenstruktur und die daraus resultierenden neuen Anforderungen als auch – ganz besonders – um den erwarteten Rückgang bei der Zahl der Vertriebsmitarbeiter und die daraus entstehende Notwendigkeit, Abläufe neu zu denken. Ein weiteres wichtiges Thema ist das abgestimmte Zusammenspiel der einzelnen Interaktionsmöglichkeiten, die der Kunde mit seiner Versicherung hat. Hierüber kann das Ziel erreicht werden, die Kundenkontaktfrequenz zu erhöhen und dadurch das Kundenerlebnis sowie den Vertriebserfolg zu steigern.
Die Fragen stellen VWheute-Redakteur Maximilian Volz.