Roland-Berger-Berater Neumann und Schareck im Interview: „ePA kann eine Sogwirkung für alle angebotenen Services der Privaten entfalten“
Der Gesetzgeber hat im August mehrere Vorhaben auf den Weg gebracht, die die Weichen für das Gesundheitssystem von morgen stellen sollen. Seit dem 30. August liegen die Kabinettsentwürfe des Digital-Gesetzes (DigiG) sowie des Gesetzes zur verbesserten Nutzung von Gesundheitsdaten (GNDG) vor und werden nun im Bundestag behandelt. Die beiden Unternehmensberater von Roland Berger Dr. Karsten Neumann (Senior Partner Health) und Dr. Christian Schareck (Senior Partner Insurance) erklären im Interview, was das für die private Krankenversicherung bedeutet und welche Mehrwertservices rund um die elektronische Patientenakte (ePA) entstehen werden.
VWheute: Herr Dr. Neumann, Herr Dr. Schareck – Wie lautet Ihre Einschätzung: Was können Krankenversicherte von den neuen Gesetzen erwarten, wo liegt die Hauptstoßrichtung?
Dr. Karsten Neumann: Das DigiG wird wohl über die Opt-out-Regelung den Durchbruch bei der „Patientenakte für alle“ schaffen. Dieses Gesetz sowie das GNDG werden zusammen die digitale Versorgung fördern, bspw. in den digitalen Programmen für Chroniker, in der Nutzung von Gesundheitsdaten und beim Ausbau der Telemedizin. All diese Angebote werden aus unserer Sicht in Verbindung mit dem eRezept und der elektronischen Krankmeldung in den Versorgungsalltag der Menschen einfließen. Private wie gesetzliche Krankenversicherungen werden ihre Services rund um die elektronische Patientenakte (ePA) immer weiter ausbauen, so dass eine digitale Versorgung allmählich Realität wird.
Dr. Christian Schareck: Das Gesundheitssystem von morgen muss effizienter, patientenorientierter und digitaler werden. Alle Beteiligten müssen den Herausforderungen von morgen gemeinsam begegnen – Kunden, Leistungserbringer und Leistungsträger. Ziel muss sein, eine nachhaltige Versorgung sicherzustellen und kontinuierliche Effizienzoptimierungen z.B. durch technischen Fortschritt und Verbesserung der analytischen Verfahren, beispielsweise über Künstliche Intelligenz, zu ermöglichen.
Eine Abdeckung für alle Versicherten kann nur erreicht werden, wenn neben der gesetzlichen auch die private Krankenversicherung eingebunden wird. Hierfür sind möglichst gleiche Rahmenbedingungen – wie auch vom Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV) gefordert – hilfreich. Eine Verpflichtung für die privaten Krankenversicherer ist allerdings bisher nicht im Gesetzesvorhaben formuliert – sie müssen sich eigenständig um Anschluss und Umsetzung kümmern. Hier gibt es noch rechtliche Risiken, die der Gesetzgeber durch Klärung im weiteren Verfahren ausräumen sollte.
VWheute: Was bedeutet dies nun für die private Krankenversicherung?
Dr. Christian Schareck: Um auch den ca. 8 Millionen Privatversicherten friktionslose und digitale Patientenreisen zu ermöglichen, sollten Gesetzgeber und private Krankenversicherer die richtigen Weichen stellen. Verdeutlicht am Beispiel der ePA: Die Privaten können und sollten eine ePA anbieten – müssen dann allerdings auch alle vorgesehenen Regelungen des Gesetzes erfüllen. Dies bedeutet einen signifikanten Aufwand und Herausforderungen für die Organisationen (Digitale Identität, Einspielen der Daten, Einbau Medikationsmanagement und e-Medikationsplan, Labordaten, etc.). Hierauf lassen sich dann aber zukünftig zahlreiche Maßnahmen zur Neukundengewinnung und Bindung der Bestandskunden aufsetzen sowie hohe Effizienzsteigerungen im Prozess- und Leistungsmanagement erzielen. Dazu zählen insbesondere eine zielgerichtete und bedarfsorientierte Behandlung und Medikation. Zudem ergeben sich ganz neue Potenziale hinsichtlich Prophylaxe und Vorsorge. Hierfür ist die Durchlässigkeit der Systeme für die Daten in der ePA von immenser Bedeutung – vor allem im Hinblick auf die Zusatzversicherung bzw. die betriebliche Krankenversicherung.
VWheute: Kann eine weitere Verbreitung auch ohne Opt-out funktionieren?
Dr. Karsten Neumann: Ja. Digitale Versorgung wird von den Menschen zunehmend als der Normalfall wahrgenommen werden. Wenn immer mehr Zusatzangebote rund um die ePA gemacht werden – in Form von Gesundheitsapps, Versorgungspfaden, Telemedizin etc. – werden auch immer mehr Menschen einen Sinn darin sehen, sich für diese Angebote anzumelden. Die niedrige Akzeptanz der ePA bisher liegt ja auch daran, dass es wenig Gründe gab, die eigene ePA zu öffnen oder gar zu pflegen. Das wird sich schnell ändern. Auch private Krankenversicherer sollten daher ein breites Angebot schaffen und ihre digitale Versorgungswelt inklusive ePA und komfortabler Digitaler Identität bei ihren Kundinnen und Kunden bewerben.
VWheute: Welche Mehrwertservices rund um die ePA werden entstehen?
Dr. Christian Schareck: Hier sind zahlreiche Ansätze denkbar und werden aktuell bereits von verschiedenen Häusern konzipiert. Die Palette ist breit und bildet die gesamte Patientenreise ab, z.B. digitale Artzterminbuchungen und Telekonsultationen, assistierende Telekonsilien in Apotheken, digitale Steuerung der Medikation, Chronikerbetreuung oder Prophylaxeangebote. Die Möglichkeiten gehen hier weit über die bisher im Einsatz befindlichen Gesundheitsapps hinaus und wir stehen hier sicher noch am Anfang der Entwicklung.
Entscheidend für die Akzeptanz auf Kundenseite ist der tatsächlich erkennbare Nutzen. Gemäß den Analysen des PKV-Verbandes besteht bereits jetzt ein hohes Interesse der privat Versicherten an den Möglichkeiten des eRezepts. Dies gilt es im Rahmen der Leistungsabrechnung anzubieten (geeignete App, digitale Gesundheitskarte, Apothekensteuerung). Durch die richtige Steuerung der Beschaffungs- und Logistikprozesse lassen sich gerade in Zeiten teilweiser Liefer- und Versorgungsengpässe bedarfsgerechte Lösungen realisieren, die der Kunde zunehmend schätzen wird.
Der ePA kommt dabei die strategisch bedeutsame Rolle des „Enablers“ zu. Obwohl heute bereits viele private Krankenversicherungen relevante Mehrwertservices via App oder Kundenportal anbieten, werden diese Services nicht breit genutzt. Die Privaten sind aktuell nicht die zentrale Anlaufstelle bei allfälligen Versorgungs- und Gesundheitsfragen ihrer Kundinnen und Kunden. Eine integrierte ePA kann deshalb den Nukleus für alle Servicedienste darstellen. Mit anderen Worten: Wenn alle Mehrwert-Services Teil der ePA-App sind, kann die ePA eine Sogwirkung für alle angebotenen Services der Privaten entfalten und zu deutlich höheren Nutzungsraten führen. Dann können die Versicherer sich tatsächlich wahrnehmbar als Innovator des deutschen Gesundheitssystems positionieren.
VWheute: Welche Rolle wird die ePA im Wettbewerb spielen?
Dr. Karsten Neumann: Der Wettbewerb wird sich an der Summe der digitalen Services entscheiden, zu denen auch die ePA zählt. Entscheidend wird sein: Geeignete Gestaltung des Angebots, um in Rankings sowie bei Maklern weit vorne zu sein, spezifische Angebote, um konkrete Zielgruppen zu überzeugen sowie eine Breite und Originalität, die zu einem Image als digitaler Vorreiter verhelfen kann.
Dr. Christian Schareck: Zusammenfassend lässt sich konstatieren: Die privaten Krankenversicherer sollten ihren Beitrag leisten, das Ökosystem Gesundheit zukunftssicher und verlässlich aufzustellen – das Wohl des Patienten muss heute wie morgen im Mittelpunkt stehen! Die Voraussetzungen hierfür sind: Klare einheitliche Rahmenbedingungen, sichere und einfache Kommunikation, funktionierende Prozesse und Logistik, sowie ein verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen!