„War for Talents“: Versicherer rekrutieren Personal nach neuen Maßstäben

Verstärkung gefunden. Bildquelle: VIN JD auf Pixabay

Bis 2030 werden weltweit rund 375 Millionen Menschen aufgrund von Automatisierung und Digitalisierung den Beruf wechseln oder neue Fähigkeiten erwerben müssen. Die durch Corona ausgelösten Veränderungen werden diese Entwicklungen beschleunigen. Einerseits entstehen neue Jobs, andererseits verschärfen sich die Anforderungen an die Mitarbeiter in bestehenden Berufen. Versicherer müssen ihr Personal künftig nach neuen Maßstäben rekrutieren. Eine Management-Analyse von McKinsey.

Wichtiger werden soziale, emotionale und technologische Kompetenz. Für die Zukunft gilt: Je mehr Tätigkeiten von Maschinen und Algorithmen übernommen werden, desto wichtiger werden neben den technischen und digitalen Fähigkeiten an den entsprechenden Schnittstellen auch Kreativität, kritisches Denken und soziale Intelligenz, um den Wandel zu gestalten.

 Die beschriebenen Trends wirken sich auch auf die Versicherungswirtschaft aus. Eine aktuelle Analyse der McKinsey Insurance Practice zeigt, dass die Arbeit sich in fast allen Funktionen stark verändern und neue Kompetenzen erfordern wird. Bei der Schadenabwicklung wird es zum Beispiel verstärkt darauf ankommen, Versicherungsnehmern gerade bei komplexen Schadenfällen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, sowohl digital als auch persönlich. Aktuare werden für ihre Arbeit in Zukunft deutlich häufiger als heute leistungsfähige quantitative Tools nutzen. Und Antragsprüfer werden zukünftig zwar nicht selbst programmieren, aber sie werden verstärkt mit Programmierern und vor allem mit Experten für Datenanalyse zusammenarbeiten.

Ein weiterer wichtiger Veränderungstreiber sind die steigenden Erwartungen der Versicherungsnehmer. Den Komfort, den Unternehmen wie Amazon, Alphabet, Netflix oder Uber ihren Kunden bieten, erwarten Privat- und Geschäftskunden mittlerweile auch von ihren Versicherungen. Um solchen Erwartungen gerecht zu werden, sind vielfältige neue Kompetenzen in Bereichen wie Interface-Design, Datenverarbeitung und Prozessoptimierung erforderlich. Auch die Nutzung Künstlicher Intelligenz wird immer wichtiger, um die Anliegen von Versicherungsnehmern schnell und effizient bearbeiten zu können.

Die Erfahrung aus vielen anderen Branchen zeigt, dass die Gestaltung reibungsloser Kundenprozesse längst einer der wichtigsten Wettbewerbsfaktoren geworden ist. Die Bankenindustrie ist hier schon weiter als die Versicherungsbranche. Das liegt daran, dass Banken im Durchschnitt sehr viel häufiger Kontakt zu ihren Kunden haben als Versicherungen. Deshalb war der Druck, die Kundenerfahrung zu verbessern, ungleich höher als im Versicherungssektor. Nun erwarten auch Versicherungskunden bei allen Interaktionen maximalen Komfort, selbst, wenn sie nur wenige Male pro Jahr Kontakt zu ihrer Versicherung haben.

Markt für Talente leergefegt

Besonders erfolgreiche Versicherer zeichnen sich durch einen überdurchschnittlichen Anteil von Mitarbeitern mit digitalen Kompetenzen aus. Schon heute werden deshalb zum Beispiel Web-Designer und „Data Scientists“ von Finanzdienstleistern händeringend gesucht. Mindestens ebenso dringend werden sogenannte „Data Architects“ gebraucht, die sich auf die Strukturierung und Verknüpfung von Daten verstehen. Die Daten vieler Versicherer sind nämlich derart fragmentiert, dass diese zunächst geprüft, nötigenfalls korrigiert und oft auch harmonisiert werden müssen, bevor die „Data Scientists“ mit ihren Analysen beginnen können.

Aber der Markt für Talente mit den gesuchten Kompetenzen ist weltweit leergefegt. Schon heute sagen 43 Prozent der Entscheider weltweit, dass sie Schwierigkeiten haben, die richtigen Mitarbeiter zu finden, und weitere 44 Prozent rechnen in den nächsten fünf Jahren mit einem Engpass. Branchenübergreifend sind derzeit folgende Themen bei Weiterbildungsmaßnahmen besonders gefragt: Kritisches Denken, Führungskompetenz, Fortschrittliche Analysemethoden („advanced data-analytics“).

Ein großer Automobilhersteller zum Beispiel hat ein innovatives Programm ins Leben gerufen, um der Digitalisierung Rechnung zu tragen und neue Fähigkeiten aufzubauen. In einem zweijährigen Curriculum werden dort unter anderem Mitarbeiter, die bisher am Montageband gearbeitet haben, zu Software-Entwicklern umgeschult. Das Angebot ist nicht auf Beschäftigte des Unternehmens beschränkt. Es steht auch externen Interessenten offen, zum Beispiel Studierenden oder Berufseinsteigern. Pro Jahrgang gibt es 100 Plätze. Die Teilnehmer werden ausschließlich anhand ihrer Fähigkeiten und persönlichen Motivation ausgewählt, unabhängig von Studienabschluss oder bisheriger Berufserfahrung.

Weiche Faktoren unterschätzt

Viele Versicherer unterschätzen beim Kampf um die besten Talente (“War for Talents“) die Bedeutung weicher Faktoren. So beschrieben die Teilnehmer einer Generation-Z-Fokusgruppe die Arbeitsumgebung in der Versicherungsbranche als „verstaubt“. Gerade Top-Talenten fehlt die Aufbruchsstimmung, die in anderen Branchen (wie Technologie und Telekommunikation oder auch Biotech und Pharma) herrscht.  Die ersten Versicherer haben die Zeichen der Zeit erkannt; sie investieren konsequent in ein inspirierendes Arbeitsumfeld. Einige Beispiele: Die radikale Neugestaltung von Arbeitsräumen, um interaktives und interdisziplinäres Arbeiten zu fördern, die Gründung von Spin-offs mit flacheren Hierarchien und weniger Bürokratie als im Mutterkonzern, und nicht zuletzt, wie in anderen Industrien auch, die Flexibilisierung der Arbeit, zum Beispiel durch Arbeiten von zu Hause („remote work“) oder eine Mischung aus Präsenz- und Heimarbeit („hybrid work“). Experten erwarten auch nach Überwindung der Covid-Krise eine deutliche Erhöhung des zeitlichen Umfangs der Heimarbeit gegenüber der Zeit vor 2020.

Kein Zweifel: die richtigen Talente und Kompetenzen sind unerlässlich für nachhaltigen Erfolg. Aber auch die besten Leute brauchen die richtigen Bedingungen, um ihr Potenzial entfalten zu können. Besonders erfolgreich sind McKinsey-Analysen zufolge jene Unternehmen, die ihren Mitarbeitern Freiraum zur Erprobung neuer Methoden bieten, aus Fehlern lernen und sich klar zur Diversität bekennen.

Diversität ist nur ein Aspekt eines motivierenden Arbeitsumfelds. Inklusion, erlebte Beteiligung und Sinnhaftigkeit sind ähnlich wichtig, insbesondere für die Bindung der Mitarbeiter ans Unternehmen. Eine noch laufende McKinsey-Studie deutet zudem darauf hin, dass in schweren Zeiten der menschliche Faktor für die Resilienz eines Unternehmens wichtiger denn je ist.

Unternehmen, die ihre Krisenfestigkeit auch unabhängig von aktuellen Personalengpässen steigern wollen, sollten deshalb Menschen wichtiger nehmen als Prozesse, in jedem Mitarbeiter den ganzen Menschen sehen und alle Mitarbeiter die Sinnhaftigkeit ihres Tuns („Purpose“) erleben lassen.

Autoren: Julia Sperling-Magro, Partnerin, und Jörg Mußhoff, Senior Partner; beide bei McKinsey & Company

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in der aktuellen Novemberausgabe der Versicherungswirtschaft.