Wie Quantencomputer die Versicherungswelt grundlegend verändern werden

Bislang gibt es keinen praktischen Nutzen von Quantencomputern, aber das soll sich bald ändern. (Quelle: Schäferle auf Pixabay)

Quantencomputing – ist das die Zukunft, die die Computertechnologie komplett verändern wird? Oder doch nur eines der vielen Buzzwords, die in der IT-Welt am laufenden Band produziert werden? Bislang hat sich die neue Technologie überwiegend unter Laborbedingungen bewiesen und noch gibt es keinen praktischen Nutzen für das Versicherungs- und Finanzumfeld. Denkbare Anwendungsbereiche wie Targeting und Vorhersage, Handelsoptimierung und Risikoanalysen sind Grund genug, sich Quantenrechner und deren Einsatzmöglichkeiten genauer anzusehen. Ein Gastbeitrag von Stefan Wörner.

Mitte Juni 2021 war es so weit: In Europa wurde der erste kommerziell nutzbare Quantencomputer präsentiert. Durch die Covid-19-Pandemie leicht verzögert, konnte IBM und die Fraunhofer-Gesellschaft die bereits im November 2020 installierte Anlage „IBM Quantum System One“ unter den Augen von Bundeskanzlerin Angela Merkel einweihen. Europa ist damit den US-amerikanischen Tech-Giganten dicht auf den Fersen und trägt zur
Morgendämmerung im Quantenland bei. Beinahe im Monatstakt werden spannende neue Entwicklungen aus allen Ecken der Welt vermeldet. Was die neue Technologie gerade für die Versicherungs- und Finanzbranche so begehrenswert macht, ist ihre Rasanz: Insbesondere Reihen komplexer Berechnungen, die sich bislang über Stunden und Tage hinziehen, könnten Quantencomputer auf wenige Minuten oder Stunden verkürzen. Daraus ergibt sich eine Vielzahl interessanter Anwendungsbereiche.

Quantencomputer könnten zukünftig helfen, die Ergebnisse je nach Komplexität, bereits in wenigen Minuten oder Stunden zu ermitteln. Kundenseitig steigt daher der Wunsch nach maßgeschneiderten, personalisierten Produkten. Damit stehen die Anbieter vor der Herausforderung, mit den derzeit verfügbaren Technologien Analysemodelle zu erstellen, die gleichermaßen schnell und präzise genau die Produkte und Lösungen finden, die bestimmte Kunden oder Kundengruppen benötigen. Auch die Preisgestaltung von Produkten erfordert Modellierungen, die aufgrund der Vielzahl von Parametern und zu berücksichtigenden Einflussgrößen extrem komplex werden können – und damit klassische Computer an ihre Grenzen stoßen lassen.

Ein weiterer wichtiger Bereich für Versicherer und Finanzdienstleister ist die Risikoabsicherung und das Stresstesting – aus originärem Interesse, aber auch, um die zunehmenden regulatorischen Anforderungen zu erfüllen. Beide zählen international bereits zu den am engsten regulierten Branchen. Eher werden kontinuierlich neue Wellen an Vorgaben zu erwarten sein, die sich zeitlich überlagern und überschneiden, einschließlich Strafzahlungen und Sanierungsmaßnahmen bei Nichteinhaltung. All dies dürfte die Zahl der notwendigen Stresstests und -szenarien in den künftigen Jahren erheblich in die Höhe treiben. Vor diesem Hintergrund können Quantencomputer die Antwort auf die Frage sein, woher die Ressourcen für die Simulation derartig komplexer Risikoszenarien zu nehmen sind. Das gilt insbesondere, wenn diese zugleich präzise und umsetzbare Ergebnisse liefern sowie Hinweise auf die Steuerung der Geschäfte geben sollen.

Die Herausforderung ist, die Quantensysteme weiter zu skalieren, Fehlerkorrektur zu integrieren und den kompletten Anwendungsstack zu erforschen und aufzubauen, um sie außerhalb der Physiklabore praktisch-relevant einzusetzen. Wenn das gelingt, ist diese Technologie faszinierend anders – und eröffnet faszinierende neue Möglichkeiten. Damit es gelingt, brauchen wir unter anderem geeignete Spezialisten für die Programmierung eines Quantencomputers. Denn diese unterscheidet sich grundlegend von der Programmierung eines konventionellen Computers.

Die Lernkurve ist dementsprechend auch für IT-Profis steil. Derzeit befindet sich die Branche in einer sehr frühen Phase ihrer Entwicklung, was einerseits bedeutet, dass Standards und Frameworks fehlen. Andererseits besteht nun für Early User die Möglichkeit, genau diese Standards mitzugestalten und damit die Richtung vorzugeben, in die die Entwicklung primär vorangetrieben wird. Jetzt werden Tools und Algorithmen entwickelt und der Grundstein für proprietäre Ökosysteme gelegt. Wenig überraschend, dass sich bereits mehrere Finanzinstitute mit Quantencomputing befassen, zum Beispiel Barclays, JPMorgan Chase und Goldman Sachs. Sie experimentieren derzeit mit der Technologie, um vielversprechende Anwendungen zu identifizieren und die resultierende Performance zu verstehen und zu optimieren.

Klar ist: Wer in einem derart kompetitiven und hochgradig regulierten Umfeld die Herausforderungen für den Einsatz von Quantencomputern in der Praxis meistert, hat beste Karten, bereits heute den Grundstein für einen zukünftigen Wettbewerbsvorteil zu legen. Und dieser technische Vorsprung kann über den langfristigen Erfolg oder Misserfolg von Finanzinstituten und Versicherungen entscheiden.

Autor: Stefan Wörner, IBM Quantum Applications Research & Software Lead

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in der aktuellen Ausgabe der Versicherungswirtschaft.

3 Kommentare

  • Quantencomputing, blockchain, und vieles mehr wurden unser Leben stark beeinflussen. Und Gott sei Dank hat man Auswahlmöglichkeiten von Beginn der Forschung prinzipiell ausgeschlossen. So wirkt solch eine allmähliche Einführung wie muss so. Die schwierigste Aufgabe des Nochmenschen, die Findung und Durchsetzung einer Entscheidung wird dann durch eine Maschine übernommen. Eine großartige Aussicht für die Einen. Ich sehe gerade auch Führungsoffiziersentscheidungen in Wirtschaft, Forschung und Politik hier stark im Kommen. Sozusagen Nochmensch ausgewechselt gegen eine Datei. Die Zeit wird es zeigen. Unsere Branche wird dieser neue Trend prägen.

  • Walther Neuhaus

    Reihen komplexer Berechnungen, die sich über Stunden und Tage hinziehen, und dazu noch in der Versicherungswirtschaft! Kontinuierlich neue Wellen an Vorgaben, die sich zeitlich überlagern und überschneiden, einschließlich Strafzahlungen und Sanierungsmaßnahmen bei Nichteinhaltung. Da wird einem Jedem Angst und Bange. Mission accomplished!

  • wolf:Daniel_Wolf

    Ich Dummkopf dachte doch tatsächlich, dass Versicherung nach dem Gesetz der großen Zahl funktioniert und die Entsolidarisierung von Risikokollektiven ehr zu Antiselektion führt (vgl. die aktuellen Erfahrungen mit Telematiktarifen). Dafür ist Rechenleistung zwar nicht schädlich, aber da es vor 100 Jahren schon funktionierte nicht alles.
    Das ganze klingt erstmal mehr nach „wir haben ein Angebot“ das muss sich jetzt seine Nachfrage schaffen – was durchaus legitim ist. Ob hier die „Firstmover“ wirklich profitieren steht in den Sternen, wenn man bedenkt, dass Versicherer im Alltagsgeschäft noch an so etwas trivialem wie „wir haben zwar den Versicherungsschein, aber nicht mehr die vereinbarten Versicherungsbedingungen und wissen deshalb nicht welchen Selbstbehalt wir im Schadenfall abziehen sollen“ scheitern.

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