Luftfahrt am Boden: Versicherern droht Kumulschaden

Quelle: Dominic Wunderlich/ Pixabay

Die internationale Luftfahrt ist durch Corona sprichwörtlich am Boden. Die Branche kämpft ums Überleben und hofft dabei auf weitere finanzielle Hilfen durch den Staat. Was die Umwelt dank eines niedrigeren CO2-Ausstoßes freut, hat für die Versicherer jedoch gravierende Auswirkungen – sowohl bei der Schadenbelastung als auch mit Blick auf die Prämienkalulation.

Glaubt man einer Analyse der International Air Transport Association (IATA) vom Juni 2020, dürfte der Umsatz der internationalen Airlines in diesem Jahr um 61 Prozent auf 214 Mrd. US-Dollar einbrechen. Auch im kommenden Jahr sollen die Einnahmen nach Einschätzung des Verbandes deutlich unter dem normalen Niveau bleiben. Anders sieht es dagegen beim Frachtverkehr aus: Der wird im laufenden Jahr den IATA-Analysten zufolge mit einem Umsatz von rund 111 Mrd. US-Dollar kräftig wachsen. Der Verband erklärt dies vor allem mit steigenden Preisen.

Quelle: Statista

Mit massiven Folgen für die internationalen Flughäfen: Einer aktuellen Prognose des Airport Councils International (ACI) zufolge liegen die Umsatzeinbrüche zwischen 55 und 65 Prozent. Die Anzahl der weltweiten Abflüge lag im August 2020 noch 60 Prozent unter dem Vorjahreswert. Auch der deutsche Flughafenverband ADV malte ein düsteres Bild der Branche:

Demnach seien die Passagierzahlen allein im September um rund 80 Prozent zum Vorjahr eingebrochen seien. Die Umsatzausfälle belaufen sich laut ADV für März bis September auf zwei Mrd. Euro und für das Gesamtjahr 2020 auf 3,6 Mrd. Euro. Zudem sei ein Viertel der über 180.000 Arbeitsplätzen an Flughafenstandorten sei gefährdet.

Allein der Betreiber von Deutschlands größtem Luftdrehkreuz – die Fraport – verzeichnete für das erste Halbjahr 2020 eine deutliche Flaute am Flughafen Frankfurt. So brach der Umsatz in den ersten sechs Monaten des Jahres um 48,9 Prozent auf 910,6 Mio. Euro ein. Auch die Flugbewegungen an Deutschlands größtem Airport bewegen sich auf weiterhin niedrigem Niveau: Laut Fraport ging die Zahl der Flugbewegungen allein im September gegenüber dem Vorjahresmonat um 63,7 Prozent auf 16.940 Flugbewegungen zurück. Die Summe der Höchststartgewichte war mit rund 1,1 Millionen Tonnen um 61,7 Prozent rückläufig. Das Cargo-Aufkommen sank trotz der fehlenden Kapazitäten aus der Beiladefracht in Passagiermaschinen jedoch um nur 5,0 Prozent auf 165.967 Tonnen.

Zudem sind seit Ende März etwa 16.000 der rund 22.000 Beschäftigten in Kurzarbeit. Dabei hatte die Fraport-Mutter jüngst angekündigt, sich von rund 2.000 ihrer derzeit 8.000-köpfigen Stammbelegschaft trennen zu wollen.

Die Airportbetreiber setzen daher im Vorfeld des geplanten Luftverkehrsgipfels am 6. November auf Finanzhilfen der öffentlichen Hand. „Ein erster wichtiger Schritt wäre die Übernahme der Lockdown-Kosten von 740 Mio. Euro“, erklärte ADV-Hauptgeschäftsführer Ralph Beisel.

Auch die großen Flugzeugbauer trudeln durch die Flaute am Himmel zunehmend in die Krise: So hat der US-Konzern allein im September 202 keine einzige Maschine verkauft. Gleichzeitig zogen die Kunden im vergangenen Monat Bestellungen für 51 Jets zurück, berichtet der Spiegel unter Berufung auf eine Unternehmensmitteilung. Allein im dritten Quartal 2020 habe nur 28 Flugzeuge ausgeliefert. Im Vorjahreszeitraum waren es noch 63 gewesen. Laut Bericht stehen in den Auftragsbüchern von Boeing in diesem Jahr 67 Flugzeugbestellungen insgesamt 448 Kündigungen Luftfahrtindustrie gegenüber.

„Die beiden großen Flugzeugproduzenten Airbus und Boeing haben bereits ihre Produktion verringert und werden im Laufe des Jahres vermutlich zahlreiche Stornierungen ihrer Bestellungen sehen. Der gewaltige Auftragsbestand allein von Airbus und Boeing von zusammen mehr als 13.000 Einheiten zum Jahresende 2019 bietet dafür allerdings ausreichend Puffer. Zum Vergleich: Weltweit waren Ende 2019 rund 22.250 kommerzielle Passagierflugzeuge unterwegs, Ende 2030 werden es gemäß aktuellen Markteinschätzungen auch unter dem Eindruck der Corona-Krise mehr als 30.000 sein“, betont Jochen Hörger, Geschäftsführer KGAL Investment Management, in einem Gastbeitrag für die Versicherungswirtschaft.

„Obwohl ein großer Teil der weltweiten Flugzeugflotte weiterhin am Boden ist, verschwinden die Schadensrisiken nicht einfach. Stattdessen verändern sie sich und können sogar neue Risikokumule schaffen.“

Jörg Ahrens, AGCS-Experte für Haftpflichtschäden

70 Mrd. US-Dollar allein in den USA am Boden

Die Konsequenz: Zahlreiche Airlines lassen ihre Maschinen momentan dauerhaft auf dem Boden – mit entsprechenden Folgen für die Versicherer. „Der zivile Flugverkehr lag praktisch brach. Die Klauseln in den Verträgen sind teilweise so gestaltet, dass reduzierte Bewegungen einfließen, andere Aspekte werden in den jährlichen Renewals besprochen. Allerdings taten sich während des Lockdowns auch andere Schadenpotentiale auf, beispielsweise durch Kumulrisiken: So steigt das Risiko von Rangier- oder Hagelschäden, wenn große Flugzeugflotten auf einem Rollfeld zwischengeparkt werden“, betonte AGCS-Manager Hans-Jörg Mauthe, im August gegenüber VWheute.

„Im Pandemieumfeld haben sich neue Risiken und sogar Kumulgefahren für die Luftfahrt entwickelt. Ein großer Teil der Weltflotte der Fluggesellschaften ist nach wie vor stillgelegt, darunter auch sehr teure Großraumflugzeuge. Die Flugzeuge sind weltweit geparkt und könnten Hurrikanen, Hagelstürmen und Tornados ausgesetzt sein. Allein in den USA sollen Anfang September 2020 mehr als 2.000 Flugzeuge mit einem geschätzten Wert von rund 70 Mrd. US-Dollar am Boden sein“, ergänzt Axel von Frowein, Leiter Luftfahrtversicherung für AGCS Zentral- und Osteuropa, gegenüber VWheute.

Für die Versicherer hat dies auch enorme Auswirkungen auf die Prämiengestaltung: „Die Policen für Fluggesellschaften basieren überwiegend auf anpassbaren Raten, die Veränderungen der Gefährdungslage je nach durchschnittlichen Flottenwert, beförderten Passagieren, Zahl der Abflüge und der Beförderung von Fracht berücksichtigen. Wir arbeiten mit unseren Kunden und ihren Maklern zusammen, um die Prämien zurückzuerstatten, die ihnen nach der Reduzierung der wichtigsten Risikokennzahlen im Vergleich zu dem, was sie vor Covid-19 geschätzt haben, zustehen. Solche Anpassungen werden auf Einzelfallbasis vorgenommen“, betont Frowein.

Gleichzeitig habe der Industrieversicherer nach „fast zwei Jahrzehnten sinkenden Prämien und vielen Jahren Unrentabilität in der Luftfahrtversicherungseit vielen Monaten Prämienerhöhungen im Markt gesehen. Schon vor der Pandemie war Luftfahrtversicherung herausfordernd: Die Schäden werden immer kostspieliger. Grund sind neue Technologien, höhere Reparaturkosten oder steigenden Schadenersatzforderungen von Passagieren. Auch die Kosten für Rückversicherung steigen, zugleich ist der Kapitalisierungsbedarf für Versicherer hoch aufgrund der naturgemäß hohen Schadenvolatilität und der hohen Versicherungssummen im Bereich Luftfahrt. Nicht zuletzt entwickeln sich in der aktuellen Situation neue Risiken und Schadenszenarien“, so der Experte.

Mit Blick auf die künftige Entwicklung in der Luftfahrtindustrie sei es jedoch „schwierig, die langfristige Entwicklung des Prämienniveaus vorherzusagen. Dies wird von der weiteren Entwicklung der Pandemie, aber auch neuen Trends in Wirtschaft und Gesellschaft beeinflusst. Aufgrund des Klimawandels, der Investitionen in grüne Energie und der Zunahme von Home Office und flexiblem Arbeiten, die zu einer Verringerung der Geschäftsreisen führen dürften, besteht eine große Unsicherheit über die Zukunft des Flugverkehrs und des Reisens im Allgemeinen. Wir rechnen jedoch mit einer mittelfristigen Erholung der Luftfahrtbranche. Die IATA prognostiziert, dass die Nachfrage nach Flugreisen um das Jahr 2024 wieder das Niveau vor der Pandemie erreichen wird. Auch die Wettbewerbssituation unter den Versicherern wird sich auf die Prämienentwicklung auswirken, was sich aktuell aber nur schwer absehen lässt (z.B. Kapazität auf der Erst- und Rückversicherungsseite)“, erläutert Frowein.

„Luftfahrt bleibt langfristig ein Wachstumsmarkt.“

Jochen Hörger, Geschäftsführer KGAL Investment Management

Hörger zeigt sich jedenfalls sicher, dass sich die Branche wieder von den Folgen der Pandemie erholen werde: „Die Corona-Krise stellt die Luftfahrt vor Herausforderungen historischen Ausmaßes – und die darin investierten institutionellen Investoren auf eine harte Probe. Vorübergehende Ertragsausfälle und Wertberichtigungen lassen sich in Einzelfällen nicht vermeiden. Wir sind aber der Überzeugung, dass die Luftfahrt langfristig ein Wachstumsmarkt bleibt. Bereits nach früheren Krisen wie dem 11. September 2001 hatten sich pessimistische Prognosen zu einer nachhaltigen Trendwende langfristig nicht bewahrheitet – im Gegenteil.“

Allerdings werde die Krise auch „zu Marktbereinigungen führen, nicht nur bei den Fluggesellschaften, sondern auch am Flugzeugmarkt. Investoren können diese Krise durchaus auch als Chance begreifen und nutzen. Doch dabei gilt es, sehr genau zu differenzieren, denn nicht alle Flugzeuge werden nach der Krise gleichermaßen wieder Fahrt aufnehmen“.

Airlines zeigen neue Kreativität

Die Airlines selbst geben sich zwischenzeitlich ungemein kreativ, um die Krise irgendwie zu überbrücken. Die asiatische Fluggesellschaft Singapore Airlines hat zwei ihrer Flugzeuge zu Pop-up-Restaurants umfunktioniert und damit einen Verkaufsschlager gelandet: Für satte 630 Dollar pro Ticket wird den Kunden an Bord der stehenden Passagiermaschinen herkömmliches Flugzeugessen serviert. Thai Airways, die bereits im Mai Insolvenz anmelden musste, richtete im September in Bangkok und Pattaya sogenannte „Flugzeug-Cafés“ ein.

Zudem bietet die australische Fluggesellschaft Quantas seit 10. Oktober mit einer Boeing 787-9 Dreamliner einen über die Sehenswürdigkeiten von Down Under an. Start- und Zielpunkt des siebenstündigen Rundfluges ist die Metropole Sydney. In der Economy-Klasse wurden die Tickets ab 780 australischen Dollar (480 Euro) verkauft, ein Sitz in der Business-Klasse war ab knapp 3.800 australischen Dollar (2.300 Euro) zu haben.

Bei den Kunden kam das Angebot jedenfalls gut an: Binnen zehn Minuten war der Rundflug praktisch ausgebucht. „Das ist wahrscheinlich der am schnellsten ausverkaufte Flug in der Geschichte von Qantas“, wurde ein Unternehmenssprecher in der Welt zitiert.

Autor: VW-Redaktion

Mehr zum Thema lesen Sie in der Oktoberausgabe der Versicherungswirtschaft.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

2 + neun =