Streitschlichter Wilhelm Schluckebier im Interview: „Das Spektrum der Versicherungsfälle reicht von tragisch bis komisch“

Dr. h.c. Wilhelm Schluckebier, Richter am Bundesverfassungsgericht I. Senat von 2006-2017

Wilhelm Schluckebier startete im letzten Jahr als Nachfolger von Günter Hirsch in seine neue Rolle als Versicherungsombudsmann. Der langjährige Richter zeigt sich überzeugt davon, dass das vereinfachte Verbraucherschlichtungsverfahren den Menschen schnell und unbürokratisch weiterhelfen könne. Die Branche macht es dem Schlichter allerdings nicht immer einfach. Im Interview spricht Schluckebier über kuriose Fälle und Fair Play.

VWheute: Seit April 2019 sind Sie der Versicherungsombudsmann. Welche Erwartungen hatten Sie und hat Sie etwas überrascht an dem Job?

Wilhelm Schluckebier: Ich habe mich auf die neue Aufgabe gefreut die Idee der Verbraucherschlichtung mit zu gestalten. Beherrschend war die Überzeugung, dass das vereinfachte Verbraucherschlichtungsverfahren den Menschen schnell und unbürokratisch in vielen Fällen weiterhelfen kann. Und dass es auch dann befriedend wirken kann, wenn die Entscheidung des Versicherers rechtens war und dem Versicherungsnehmer dies in verständlicher Weise erklärt wird. Wenn Sie fragen, was überrascht hat: Die Versicherungsbedingungen sind inhaltlich sehr komplex geworden und zwischen den Unternehmen oft recht verschieden. Zu dieser Entwicklung haben sicher auch der Gesetzgeber und die Rechtsprechung beigetragen. Vielfach scheint mir die kritische Grenze erreicht zu sein. Versicherungsnehmer können die Texte oft kaum verstehen und selbst diejenigen, die über tiefe Kenntnisse der Materie verfügen, haben häufig Verständnisschwierigkeiten. Gerade deshalb braucht es aber den Versicherungsombudsmann. Weniger überrascht, aber hocherfreut war ich, dass ich ein eingearbeitetes, bestens organisiertes Team hochmotivierter Spezialisten vorgefunden habe, das mich hervorragend unterstützt.

VWheute: Welche Beschwerden sind Ihnen in der Zeit besonders im Gedächtnis geblieben?

Wilhelm Schluckebier: Aus dem Bereich der Kuriositäten ist das ein Fall aus der Hausratversicherung mit einem Waschbär als Dieb. Der Waschbär war in das Haus des Beschwerdeführers eingedrungen, hatte Hundefutter verzehrt und flüchtete schließlich in einen Hohlraum über der Decke. Die Deckenverkleidung stürzte durch das Gewicht des Waschbärs herunter. Der Versicherungsnehmer wähnte sich versichert. Er ging von einem Einbruchdiebstahl mit anschließendem Vandalismus aus. In den Versicherungsbedingungen sei schließlich nicht geregelt, dass der Dieb ein Mensch sein müsse. Damit konnte er allerdings nicht durchdringen. Denn der durchschnittliche Versicherungsnehmer weiß, dass ein Waschbär nicht Dieb und Täter sein kann. Das sind Begriffe, die im Strafrecht eindeutig menschliches Verhalten voraussetzen.

VWheute: Gibt es weitere Fälle?

Wilhelm Schluckebier: Mir kommt auch ein tragischer Fall aus der Reiseversicherung in den Sinn, der die Bedeutung auch des Wortlauts der vereinbarten Versicherungsbedingungen verdeutlicht: Wegen des absehbar letalen Ausgangs einer Krebserkrankung der Ehefrau hatte ein Ehepaar noch eine Mittelmeerreise gebucht. Zwei Wochen vor deren Beginn stornierte der Beschwerdeführer diese Reise auf ärztlichen Rat. Seine Frau verstarb sechs Tage nach der Stornierung, also vor Antritt der Reise. Der Versicherer lehnte die Übernahme der Stornokosten ab, weil die Verschlechterung der Erkrankung nicht „unerwartet“ im Sinne der vereinbarten Versicherungsbedingungen eingetreten sei. Vor der Reisebuchung hätten durchgehend Behandlungen der erkrankten Ehefrau stattgefunden. Die Entscheidung des Versicherers war rechtlich nicht zu beanstanden. Hinsichtlich der Versicherungsleistung wäre es für den Beschwerdeführer besser gewesen, zunächst den Tod seiner Frau abzuwarten und erst dann zu stornieren, auch wenn nicht klar war, ob der Tod der Frau noch vor dem geplanten Reisebeginn eintreten würde.

VWheute: Wie ging es aus?

Wilhelm Schluckebier: Ich habe beim Versicherer angeregt, dem Witwer bei dieser Geschehenslage entgegenzukommen. Die Beteiligten haben sich schließlich auf eine Zahlung von 50 Prozent der Stornierungskosten durch den Versicherer verständigt. Die Fälle, die übrigens neben anderen Beispielen aus unserer Tätigkeit auch im Jahresbericht 2019 aufgeführt sind, verdeutlichen die ganze Vielfalt und das Spektrum der unterschiedlichen Fallgestaltungen. Dieses reicht von tragisch bis komisch und von juristisch äußerst anspruchsvoll bis zu einfachen Sachlagen. Sie zeigen auch, dass wohl kein staatliches tatsacheninstanzliches Gericht und auch keine andere Schlichtungsstelle mit einer solchen Vielfalt von versicherungsvertragsrechtlichen Beschwerdekonstellationen befasst ist wie der Ombudsmann für Versicherungen.

VWheute: Kann man am Versicherungsombudsmann-Verfahren etwas verbessern oder allgemein an der Institution? Braucht es mehr Personal?

Wilhelm Schluckebier: Mehr Personal benötigen wir nicht. Auch nach den ersten neun Monaten des Jahres 2020 zeigt sich, dass die Beschwerdezahlen stabil sind. Änderungen von Jahr zu Jahr bewegen sich im Rahmen der üblichen Schwankungsbreiten. Dabei werden die Verfahren zügig abgeschlossen. Augenblicklich liegt die Erledigungsdauer im Schnitt bei den zulässigen Beschwerden bei 2,6 Monaten, gerechnet vom Eingang der Beschwerde bis zum Verfahrensabschluss. Die vom Gesetzgeber vorgegebene Neunzigtagefrist, die erst zählt, wenn in der Akte alle Unterlagen vorliegen, unterschreiten wir damit deutlich. Verbesserungsbedarf? Hier sind wir kontinuierlich unterwegs und bestrebt, haben gerade eben erst die voll digitalisierte Beschwerdebearbeitung eingeführt. Das erleichtert auch die Kommunikation mit den Verfahrensbeteiligten und bietet eine Fülle weiterer Vorteile, was Auswertungen, Volltextsuche und die Straffung der internen Abläufe angeht. Trotz der hohen Beschwerdezahlen und der Arbeit von insgesamt 23 juristischen Referenten haben wir die flacheste Hierarchie, die man sich vorstellen kann. Alle Referenten arbeiten unmittelbar mit Geschäftsführer und Ombudsmann zusammen. Im Randbereich gibt es sicherlich Verbesserungsmöglichkeiten bei den gesetzlichen Regelwerken, die der Verbraucherstreitbeilegung zu Grunde liegen. Hier sind wir im Kontakt mit dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und anderen Verbraucherschlichtungsstellen.

VWheute: Die neue Schlichtungsstelle für Vermittler ist nun unter dem Dach des Votum-Verbands. Von Überschneidungen der Aufgaben wurde im Vorfeld geredet. Wie verläuft die Zusammenarbeit nun und wie viele Überschneidungen sind tatsächlich anzutreffen?

Wilhelm Schluckebier: Wenn es in bestimmten Fällen eine Doppelzuständigkeit gibt, so bereitet das in der Praxis keine Probleme. Unsere Verfahrensordnung sieht vor, dass der Versicherungsombudsmann nicht tätig wird, wenn die Beschwerde bereits bei einer anderen Verbraucherstreitbeilegungsstelle erhoben und anhängig ist. Eine inhaltlich entsprechende Bestimmung hat auch die von Ihnen genannte Schlichtungsstelle in ihrer Verfahrensordnung. Praktisch gibt es so gut wie keine Überschneidungsfälle, weil sich offenbar Beschwerdeführer entweder an die eine oder die andere Schlichtungsstelle wenden, meist an den Versicherungsombudsmann. Denn der hat auch die Möglichkeit, Beschwerden gegen Vermittler als solche gegen das Unternehmen zu führen, wenn der Vermittler als Erfüllungsgehilfe des Unternehmens tätig war. Und er kann im gegebenen Fall auch für das Unternehmen bindend entscheiden.

Die Fragen stellte VWheute-Redakteur David Gorr.

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