Auslegung von § 163 VVG und Zulässigkeit von Anpassungsklauseln für den Rentenfaktor in der Rentenversicherung

Bildquelle: Dolphinmedia/Pixabay

Die Zulässigkeit einer Anpassungsklausel, die es dem Versicherer einer fondsgebundenen Rentenversicherung gestattet, nach Vertragsschluss den im Vertrag festgelegten Rentenfaktor und damit die vertraglich vereinbarte Rentenhöhe abzusenken, wird in der Instanzrechtsprechung derzeit unterschiedlich beurteilt. Umstritten ist, ob die halbzwingende Regelung des § 163 VVG Anpassungsklauseln für den Rentenfaktor ausschließt. Professor Dr. Manfred Wandt analysiert die gesetzliche Regelung mit dem Ergebnis, dass diese Vorschrift eine gesetzliche Vertragsanpassungsbefugnis in der Lebensversicherung nur bei Änderung biometrischer Risiken gibt; nicht dagegen, wenn der Versicherer am Kapitalmarkt geringere Kapitalmarktrenditen erzielt hat, als von ihm bei der Prämienkalkulation zugrunde gelegt wurde.

I. Einleitung

Die jüngst ergangenen Entscheidungen des LG Köln[1] (rechtskräftig) und des LG Stuttgart[2] (nicht rechtskräftig) betreffen die Wirksamkeit von Anpassungsklauseln für den Rentenfaktor in einer fondsgebundenen Rentenversicherung. Der Rentenfaktor ist ein im Vertrag festgelegter Parameter zur Bestimmung der Rentenhöhe, die sich bei Verrentung des Deckungskapitals ergibt, das nach Ablauf der sog. Aufschubzeit vorhanden ist.[3] Meist erfolgt die Angabe des Rentenfaktors in einem Eurobetrag, der je 10.000 € Deckungskapital gezahlt wird. Die Höhe des Rentenfaktors kann vom Versicherer garantiert sein, muss dies aber nicht. Es besteht insoweit grundsätzlich Produktgestaltungsfreiheit des Versicherers.[4]

Anpassungsklauseln für den Rentenfaktor geben dem Versicherer eine Befugnis zur Herabsetzung des Rentenfaktors, also eine Befugnis zur Herabsetzung der vereinbarten Versicherungsleistung – so auch die Klauseln der zuvor genannten Rechtsstreite.[5] Solche Klauseln knüpfen die Befugnis des Versicherers regelmäßig an eine Steigerung der Lebenserwartung (gegenüber der bei der Kalkulation zugrunde gelegten Lebenserwartung) und/oder an ein Absinken der Rendite der Kapitalanlagen (gegenüber der bei der Kalkulation zugrunde gelegten Renditeerwartungen). Hervorzuheben ist, dass die am Markt verwendeten Anpassungsklauseln für den Rentenfaktor dem Versicherer in aller Regel eine Befugnis zur Herabsetzung der Versicherungsleistung geben, ohne auch eine Pflicht des Versicherers vorzusehen, bei (erneuter) positiver Entwicklung der maßgebenden Kriterien den Rentenfaktor (wieder) heraufzusetzen.

Beispiele für Klauselgestaltungen des Marktes geben die Klauseln der zuvor genannten Rechtsstreite, die nachfolgend – auszugsweise wie in dem Tatbestand der Gerichtsentscheidungen – wiedergegeben werden; die Auslösungsfaktoren für eine Anpassung sind hier allerdings abweichend vom Original in Kursivschrift hervorgehoben:

1. LG Köln v. 8.2.2023 – 26 O 12/22, VersR 2023, 1423 (rechtskräftig)

„§ 2 Welche Versicherungsleistungen erbringen wir?

(…)

(2) Bereits bei Vertragsabschluss nennen wir Ihnen die Monatsrente je 10.000 € Vertragsguthaben zum Ende der Ansparphase. Diese Monatsrente gilt maximal für ein zum Rentenzahlungsbeginn erreichtes Vertragsguthaben von 750.000 €. Wird ein höheres Vertragsguthaben erreicht, wird für den darüber hinausgehenden Teil die Rente auf Basis des bei Rentenzahlungsbeginn gültigen Rentenprodukts errechnet.

Wenn sich die Lebenserwartung unerwartet stark erhöht bzw. die Rendite der Kapitalanlagen nicht nur vorübergehend absinkt und dadurch die langfristige Erfüllbarkeit einer lebenslangen Rentenzahlung nicht mehr sichergestellt ist, sind wir berechtigt, Ihre Monatsrente je 10.000 € Vertragsguthaben so weit herabzusetzen, wie dies erforderlich ist, um diese langfristige Erfüllbarkeit zu gewährleisten. Dabei darf für die Berechnung Ihrer Monatsrente je 10.000 € der Betrag nicht unterschritten werden, der sich ergibt, wenn die Sterbetafel und der Rechnungszins angewendet werden, die zum Ende der Aufschubzeit nach Maßgabe der dann gültigen aufsichtsrechtlichen Bestimmungen und Vorgaben als Rechnungsgrundlagen geboten sind. Zusätzlich dürfen 50 % der in Ihrem Versicherungsschein genannten Monatsrente je 10.000 € nicht unterschritten werden.

Dieses Recht steht uns nur bis zum vereinbarten Rentenzahlungsbeginn zu. Wir dürfen es nur mit Zustimmung eines unabhängigen Treuhänders ausüben, der die Voraussetzungen und die Angemessenheit der Anpassung geprüft und bestätigt hat. Über eine Anpassung werden wir Sie rechtzeitig informieren.“

2. LG Stuttgart v. 10.7.2023 – 53 O 214/22, VersR 2023, 1215 (nicht rechtskräftig)

„§ 1 Was ist versichert?

(3) Im Versicherungsschein nennen wir Ihnen den Rentenfaktor; er gibt die Höhe der monatlichen Rente an, die – basierend auf dem Rechnungszins von 2,76 % und den Annahmen der Lebenserwartung nach der vom Geschlecht unabhängigen unternehmenseigenen Sterbetafel … – für je 10.000 € Policenwert gezahlt wird.

Wenn aufgrund von Umständen, die bei Vertragsabschluss nicht vorhersehbar waren, die Lebenserwartung der Versicherten sich so stark erhöht oder die Rendite der Kapitalanlagen (siehe § 25 Abs. 1 e S. 4) nicht nur vorübergehend so stark sinken sollte, dass die in S. 1 genannten Rechnungsgrundlagen voraussichtlich nicht mehr ausreichen, um unsere Rentenzahlungen auf Dauer zu sichern, sind wir berechtigt, die monatliche Rente für je 10.000 € Policenwert so weit herabzusetzen, dass wir die Rentenzahlung bis zu Ihrem Tode garantieren können. Zu diesem Zweck können wir für die Berechnung des Rentenfaktors als Rechnungsgrundlagen

  • bei einer unerwartet starken Erhöhung der Lebenserwartung: die Sterbetafel
  • bei einer nachhaltigen Senkung der Rendite der Kapitalanlagen: den Rechnungszins

anwenden, die nach Maßgabe der aktuell gültigen aufsichtsrechtlichen Bestimmungen und der offiziellen Stellungnahmen der Deutschen Aktuarvereinigung e.V. (DAV) als gebotene Rechnungsgrundlagen für die Berechnung der Deckungsrückstellung für neu abzuschließende Rentenversicherungen gelten. Dieses Recht steht uns nur vor dem vereinbarten Rentenbeginn zu; wir dürfen es nur mit Zustimmung eines unabhängigen Treuhänders ausüben, der die Berechnungsgrundlagen und sonstigen Voraussetzungen zu überprüfen und deren Angemessenheit zu bestätigen hat. Über die Höhe des neuen Rentenfaktors werden wir Sie unverzüglich informieren. …“

Bei einer Anpassungsklausel für den Rentenfaktor einer (fondsgebundenen) Rentenversicherung stellt sich die zentrale Frage, ob die Klausel den Anwendungsbereich von § 163 VVG betrifft. Wenn dies der Fall ist, dann folgt aus § 171 S. 1 VVG, dass von der halbzwingenden Regelung des § 163 VVG nicht zum Nachteil des VN oder der versicherten Person abgewichen werden kann. Wenn der Anwendungsbereich von § 163 VVG dagegen nicht betroffen ist, ist die Anpassungsklausel (allein) nach §§ 307 ff. BGB zu beurteilen, ohne dass es dann auf den halbzwingenden Charakter von § 163 VVG ankommt. Die mitgeteilten landgerichtlichen Urteile divergieren bereits in dieser grundlegenden Frage: Das LG Köln erachtet § 163 VVG als maßgebend, das LG Stuttgart hält § 163 VVG nicht für betroffen, argumentiert aber im Rahmen der AGB-rechtlichen Wirksamkeitskontrolle an mehreren Stellen mit Bezug auf § 163 VVG.

Dieser Beitrag beschränkt sich auf die grundlegende Frage, welche Bedeutung § 163 VVG für die Zulässigkeit von Anpassungsklauseln für den Rentenfaktor in der Rentenversicherung hat. Der Beitrag verhält sich nicht zu Fragen der AGB-rechtlichen Wirksamkeitsanforderungen für solche Anpassungsklauseln, auch nicht hinsichtlich der zuvor auszugsweise wiedergegebenen unternehmensindividuellen AVB-Bestimmungen.[6]

II. Zu Inhalt und Auslegung von § 163 VVG

1. Regelungsinhalt und umstrittene Kernfrage

§ 163 Abs. 1 Nr. 1 VVG gibt dem Versicherer ein gesetzliches einseitiges Recht zur Neufestsetzung der vereinbarten Prämie unter der Grundvoraussetzung, dass „sich der Leistungsbedarf nicht nur vorübergehend und nicht voraussehbar gegenüber den Rechnungsgrundlagen der vereinbarten Prämie geändert hat“. Bei einer prämienfreien Versicherung ist der Versicherer unter derselben Grundvoraussetzung zu einer Herabsetzung der Versicherungsleistung berechtigt (Abs. 2 S. 2).

§ 163 Abs. 1 VVG spricht zwar neutral von einer Befugnis des Versicherers zu einer „Neufestsetzung der vereinbarten Prämie“, sodass der Versicherer die Befugnis theoretisch auch dazu nutzen könnte, die vereinbarte Prämie zu senken. Es geht in der Sache aber ausschließlich um eine Befugnis zur Prämienerhöhung, wie sich eindeutig aus dem Fehlen einer Anpassungspflicht des Versicherers und den weiteren Anpassungsvoraussetzungen ergibt („… erforderlich …, um die dauernde Erfüllbarkeit der Versicherungsleistung zu gewährleisten“); auch § 163 Abs. 2 VVG macht dies deutlich, indem er nur von einer Erhöhung der Prämie und Herabsetzung der Versicherungsleistung spricht.

Hintergrund des § 163 VVG ist, dass Verträge der Lebensversicherung[7] regelmäßig lange, meist Jahrzehnte umspannende Laufzeiten haben und für den Versicherer nicht ordentlich kündbar sind. Deshalb gibt § 163 VVG dem Versicherer unter den dort genannten Voraussetzungen eine Prämienanpassungsbefugnis, damit mit ihrer Hilfe das bei Vertragsschluss vereinbarte Äquivalenzverhältnis von Leistung und Gegenleistung, das durch unerwartete Risikoentwicklung aus dem Gleichgewicht geraten ist, wiederhergestellt werden kann.

Die Kernfrage zu § 163 VVG lautet: Unter welchen materiellen Voraussetzungen (Auslösungsfaktoren) besteht eine Befugnis des Versicherers zur Erhöhung der Prämie? Dem schließt sich die Folgefrage an: Mit welchem Inhalt darf der Versicherer eine zulässige Vertragsanpassung vornehmen?

Rechtsprechung zur Kernfrage gibt es, sieht man von den in der Einleitung genannten LG-Entscheidungen ab, noch nicht, da Lebensversicherer von der Anpassungsbefugnis des § 163 VVG – soweit ersichtlich – bislang generell keinen Gebrauch gemacht haben.

Im Schrifttum ist die Kernfrage umstritten. Der Streit fokussiert auf die Frage, ob eine Änderung des Leistungsbedarfs gegenüber den Rechnungsgrundlagen der vereinbarten Prämie und damit eine Anpassungsbefugnis des Versicherers nur dann besteht, wenn sich biometrische Risiken anders entwickeln, als vom Versicherer bei der Kalkulation zugrunde gelegt, oder auch dann, wenn sich die Rendite der Kapitalanlagen des Versicherers anders entwickeln als zugrunde gelegt. Im zuletzt genannten Fall wäre der Lebensversicherer insbesondere auch dann zu einer Prämienerhöhung – wie gesagt: ohne Leistungsausweitung – berechtigt, wenn er am Kapitalmarkt geringere Kapitalmarktrenditen erzielen kann, als von ihm bei der Prämienkalkulation zugrunde gelegt wurde.

2. Zur Auslegung der Formulierung „Änderung des Leistungsbedarfs gegenüber den Rechnungsgrundlagen der vereinbarten Prämie“

Der Anwendungsbereich und der halbzwingende Regelungsinhalt von § 163 VVG sind durch Auslegung zu bestimmen. Diese Gesetzesauslegung ist, dies versteht sich von selbst, von einer konkreten Anpassungsklausel eines Versicherers losgelöst und unabhängig vorzunehmen. Es ist mit anderen Worten grundsätzlich geboten, diese Gesetzesauslegung nicht mit AGB-rechtlichen Überlegungen zur Wirksamkeit von Anpassungsklauseln zu vermengen.

a) Ausgangspunkte der Auslegung

Der Begriff „Leistungsbedarf“ im Rahmen der Grundvoraussetzung des § 163 VVG („wenn sich der Leistungsbedarf nicht nur vorübergehend und nicht voraussehbar gegenüber den Rechnungsgrundlagen der vereinbarten Prämie geändert hat“) ist erstmals und einzig durch die Vorgängerregelung § 172 VVG a.F. in das VVG eingeführt worden. Die Gesetzesbegründung zu § 172 Abs. 1 VVG a.F. spricht von einer „Zunahme der Aufwendungen für Versicherungsfälle gegenüber der Annahme bei der Kalkulation und dem prospektierten Leistungsaufwand“.[8]

§ 172 Abs. 1 VVG a.F. war ausschließlich auf solche Lebensversicherungen anwendbar, die Versicherungsschutz für ein Risiko boten, bei dem der Eintritt der Verpflichtung des Versicherers ungewiss ist. Die Begründung des Regierungsentwurfs zu § 172 Abs. 1 VVG a.F. lautet:

„In der Lebensversicherung werden bestimmte Risiken wie das Pflege‑, das Berufsunfähigkeits- und das Dread-Disease-Risiko versichert, deren Eintritt ungewiss ist und deren künftiger Verlauf nicht zuverlässig abgeschätzt werden kann. Ähnlich wie bei der Krankenversicherung kann in diesen Fällen eine Zunahme der Aufwendungen für Versicherungsfälle gegenüber der Annahme bei der Kalkulation und dem prospektierten Leistungsaufwand durch eine unvorhergesehene und bei der Prämienkalkulation auch nicht abschätzbare veränderte Entwicklung zu nicht nur vorübergehenden Veränderungen und Verlusten innerhalb des für die Versicherung maßgebenden Abrechnungsverbandes führen, die geeignet sein können, die dauernde Erfüllbarkeit der Versicherungsleistungen zu gefährden. Für diese Fälle sieht das geltende Bedingungsrecht eine Prämienanpassung mit Genehmigung der Aufsichtsbehörde vor, die es künftig nicht mehr geben kann. Da zur Wahrung der Belange der Versicherten aber auf eine nur diesem Zweck dienende Anpassungsmöglichkeit nicht verzichtet werden kann, schlägt der Entwurf eine Regelung vor, die sich an der insoweit vergleichbaren Krankenversicherung orientiert“.[9]

Der geltende § 163 VVG ist – anders als die Vorgängervorschrift § 172 Abs. 1 VVG a.F. – uneingeschränkt auf alle Arten von Lebensversicherungen anwendbar. Die Gesetzesbegründung zu § 163 VVG äußert sich zu dem erweiterten Anwendungsbereich nicht, wohl aber zu den Voraussetzungen für eine Neufestsetzung der Prämie:

„§ 163 VVG-E sieht das Recht des Versicherers zur Neufestsetzung der Prämie vor, ohne eine entsprechende vertragliche Anpassungsklausel vorauszusetzen. Damit werden solche Klauseln in anderen Fällen nicht ausgeschlossen, sie unterliegen jedoch der allgemeinen Kontrolle nach § 305 ff. BGB. Dies entspricht der bisherigen Regelung des § 172 VVG. Eine inhaltliche Änderung der Voraussetzungen für die Neufestsetzung der Prämie ist nicht vorgesehen; die Änderungen im Wortlaut des § 163 Abs. 1 S. 1 VVG-E dienen lediglich der Verdeutlichung“.[10]

b) Meinungsstand

Der Begriff „Leistungsbedarf“ und seine Umschreibung in der Gesetzesbegründung bringen für sich gesehen nicht die notwendige Klarheit. Erhellend ist jedoch, dass das Begriffsverständnis bei der Vorgängerregelung des § 172 VVG a.F. nach allgemeiner Auffassung auf den durch biometrische Rechnungsgrundlagen bedingten Leistungsbedarf begrenzt war[11] und dass nach den Gesetzesmaterialien zu § 163 VVG durch diese Vorschrift die inhaltlichen Voraussetzungen für eine Prämienanpassung nicht verändert werden sollten.[12]

aa) Nach überwiegender Ansicht bezeichnet der Begriff „Leistungsbedarf“ in § 163 VVG – wie in der Vorgängerregelung des § 172 VVG a.F. – den Kapitalbedarf, der den vom Versicherer vertraglich geschuldeten Versicherungsleistungen entspricht.[13] Hieraus ergibt sich, dass es auch für § 163 VVG ausschließlich auf eine Änderung biometrischer Risiken ankommt.

Nicht erfasst werden Aufwendungen, die der Versicherer nur mittelbar zwecks Erfüllung von Ansprüchen auf Versicherungsleistungen tätigt wie beispielsweise höhere Provisionszahlungen oder Mehrkosten im Verwaltungsapparat des Versicherers. Nicht erfasst werden auch Änderungen vorgelagerter Parameter der Kapitalgenerierung, insbesondere nicht ein Kapitalbedarf, der sich daraus ergibt, dass der Versicherer am Kapitalmarkt geringere Renditen erwirtschaftet, als er bei der Festlegung des (garantierten) Rechnungszinses im Rahmen der Prämienkalkulation zugrunde gelegt hat.[14] Darin liegt keine Änderung des Leistungsbedarfs. Denn der Leistungsbedarf, d.h. die Gesamtsumme des Kapitals, das der Versicherer den Versicherten als Versicherungsleistungen schuldet, bleibt gleich. Der gleichbleibende Leistungsbedarf ist vom Versicherer aufgrund der Kapitalmarktverhältnisse nur schwieriger zu finanzieren, als von ihm bei der Prämienkalkulation erwartet wurde.

bb) Nach einer – abzulehnenden – weiten Ansicht erfasst der Begriff „Leistungsbedarf“ alle Rechnungsgrundlagen.[15] Der Begriff bezeichne den Prämienbetrag, den der Versicherer unter Beachtung von § 138 VAG auf der Grundlage der für die Zukunft erwarteten gesamten Versicherungsleistungen auf den einzelnen VN mithilfe von eigens für diesen Zweck erstellten Rechnungsgrundlagen 1. Ordnung, die auch ausreichende Risikozuschläge enthalten, schlüsselt (zuordnet) und als Prämie dann in Rechnung stellt.[16]

cc) Wenngleich der Begriff „Leistungsbedarf“ für sich gesehen unklar ist, so ergibt sich unter Berücksichtigung der historischen, grammatikalischen, systematischen und teleologischen Auslegung doch relativ eindeutig, dass er sich nicht auf die Änderung jedweder Rechnungsgrundlage bezieht, sondern ausschließlich auf die Änderung biometrischer Rechnungsgrundlagen. Zu den biometrischen Rechnungsgrundlagen gehören insbesondere die Sterbewahrscheinlichkeit sowie abhängig von der Produktgestaltung die Wahrscheinlichkeit einer die Versicherungsleistung auslösenden Krankheit (Dread-Disease-Versicherung), die Wahrscheinlichkeit einer Erwerbsunfähigkeit, einer Arbeitslosigkeit (Restschuldversicherung) oder des Eintritts der Pflegebedürftigkeit (Pflegerentenversicherung).

Die Gründe für die Beschränkung des § 163 VVG auf Änderungen biometrischer Rechnungsgrundlagen sind vom Verfasser bereits umfänglich an anderer Stelle dargelegt worden.[17] Diese Begründung soll hier nicht erneut vollständig ausgebreitet werden. Es soll vielmehr auf die Haupteinwände[18] gegen das Verständnis der überwiegenden Ansicht eingegangen werden.

c) Zurückweisung von Einwänden gegen eine Beschränkung auf biometrische Rechnungsgrundlagen

aa) Einwand des gegenüber der Vorgängerregelung erweiterten Anwendungsbereichs von § 163 VVG

Eingewendet wird – mit dem Ziel der Ausdehnung von § 163 VVG auf sämtliche Rechnungsgrundlagen der Prämienkalkulation –, der Begriffsinhalt und damit der Regelungsinhalt von § 163 VVG habe sich dadurch geändert, dass der Anwendungsbereich der Vorschrift gegenüber der Vorgängerregelung des § 172 VVG a.F. erweitert worden ist.[19]

Richtig ist, dass die Vorgängerregelung beschränkt war auf Lebensversicherungsverträge mit „Versicherungsschutz für ein Risiko, bei dem der Eintritt der Verpflichtung des Versicherers ungewiss ist“[20] und diese Beschränkung in § 163 VVG nicht fortgeführt ist. Die Gesetzesbegründung zu § 163 VVG erläutert den Grund für die Ausdehnung des Anwendungsbereichs nicht. Ausschlaggebend für die letztlich[21] Gesetz gewordene Ausdehnung des Anwendungsbereichs von § 163 VVG war wohl, dass die Begrenzung des Anwendungsbereichs von § 172 Abs. 1 VVG a.F. im damaligen Schrifttum als wenig plausibel angesehen worden war, einerseits weil bei der Versicherung kombinierter Risiken bereits das Vorhandensein eines Risikos mit ungewisser Eintrittspflicht des Versicherers zur Anwendbarkeit der gesetzlichen Anpassungsbefugnis auf das Gesamtprodukt führte und andererseits weil auch bei Verträgen mit gewiss eintretender Leistungspflicht des Versicherers ein Anpassungsbedarf aufgrund nicht prognostizierter Risikoentwicklungen in Betracht gezogen wurde.[22]

Es gibt allerdings keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber des § 163 VVG mit der Erweiterung des Anwendungsbereichs eine völlige Inhaltsänderung hinsichtlich der Voraussetzungen der Prämienänderung beabsichtigte. Im Gegenteil heißt es in der Gesetzesbegründung: Die Gewährung eines gesetzlichen Rechts zur Neufestsetzung der Prämie entspreche der bisherigen Regelung des § 172 VVG (a.F. 1994). Wörtlich: „Eine inhaltliche Änderung der Voraussetzungen für die Neufestsetzung der Prämie ist nicht vorgesehen; die Änderungen im Wortlaut des § 163 Abs. 1 S. 1 VVG-E dienen lediglich der Verdeutlichung“[23] (Kursivdruck hinzugefügt).[24]

Lesen Sie den vollständigen Aufsatz in der Juni-Ausgabe von Versicherungsrecht (VersR)

Der Autor Prof. Dr. Manfred Wandt ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Versicherungsrecht und Vorstandsmitglied des Institute for Law and Finance und des International Center for Insurance Regulation an der Goethe-Universität Frankfurt/M.


[1]     LG Köln v. 8.2.2023 – 26 O 12/22, VersR 2023, 1423.

[2]     LG Stuttgart v. 10.7.2023 – 53 O 214/22, VersR 2023, 1215.

[3]     Vgl. § 2 Abs. 2 S. 3 Allgemeine Bedingungen für die fondsgebundene Rentenversicherung (GDV-Musterbedingungen, Stand: 28.4.2021).

[4]     Für Altersvorsorge- und Basisrentenverträgen nach dem Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetz (AltZertG) bestimmt allerdings dessen § 1 Abs. 1 Nr. 4a Halbs. 2 zusätzlich zur sog. Beitragserhaltungsgarantie nach § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AltZertG, dass „die Leistungen … während der gesamten Auszahlungsphase gleich bleiben oder steigen“ müssen.

[5] Denkbar ist auch eine Vereinbarung, dass der Rentenfaktor erstmals bei Rentenbeginn vom Versicherer (einseitig, aber gebunden an bestimmte Kriterien) bestimmt wird. Es handelt sich dann um ein Bestimmungsrecht nach § 315 BGB. In einer solchen Konstellation geht es nicht um die Anpassung des vereinbarten Vertragsinhalts, sondern um die erstmalige Festlegung des Vertragsinhalts in einem bestimmten Punkt.

[6]     Vorbehalten sind insoweit nur wenige Bemerkungen unter IV 3 dieses Beitrags.

[7]     Auf die Berufsunfähigkeitsversicherung ist § 163 VVG entsprechend anzuwenden (§ 176 VVG); allerdings ohne den halbzwingenden Charakter, da § 171 VVG von dem Verweis in § 176 VVG nicht umfasst ist. Auf die Berufsunfähigkeitsversicherung und die fondsgebundene Lebensversicherung im Rahmen der betrieblichen Altersversorgung wird nachfolgend nicht eingegangen.

[8]     Begr. RegE, BT-Drucks. 12/6959, 102.

[9]     Begr. RegE, BT-Drucks. 12/6959, 101 f.

[10]     Begr. RegE, BT-Drucks. 16/3945, 99.

[11]     Vgl. nur Engeländer, VersR 2000, 274, 278 f.; Jaeger, VersR 1999, 26, 28 f.

[12]     Begr. RegE, BT-Drucks. 16/3945, 99.

[13]     Wandt in Langheid/Wandt, MünchKomm/VVG, 3. Aufl. 2024, § 163 Rz. 27 ff.; Wandt, VersR 2015, 918; Ortmann in Schwintowski/Brömmelmeyer/Ebers, VVG, 4. Aufl. 2021, § 163 Rz. 7 f.; Schneider in Prölss/Martin, 31. Aufl. 2021, § 163 VVG Rz. 7; Pilz in BeckOK/VVG, 22. Ed. 1.2.2024, § 163 Rz. 3; Brömmelmeyer in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2015, § 42 Rz. 101; Makowsky, VersR 2023, 1129; zu § 172 a.F.: Engeländer, VersR 2000, 274, 278 f.; Jaeger, VersR 1999, 26, 28 f.

[14]     Rechnungszinssatz ist der Zinssatz, um den der Versicherer den nach den übrigen Rechnungsgrundlagen kalkulierten Betrag der Prämie mit Blick auf die von ihm erwarteten Erträge aus Kapitalanlagen diskontiert (Diskontierungssatz). Der Rechnungszins als Rechnungsgrundlage der Prämie ist nicht notwendig mit dem Höchstzinssatz identisch, den die Deckungsrückstellungsverordnung (DeckRV) für die Berechnung der Deckungsrückstellung von Verträgen mit Zinsgarantie zwingend vorgibt.

[15]     Baroch Castellvi, VersR 2024, 1 (jedenfalls auch den Rechnungszins); Grote in Langheid/Rixecker, VVG, 7. Aufl. 2022, § 163 Rz. 7; Brambach in Rüffer/Halbach/Schimikowski, Handkommentar VVG, 4. Aufl. 2020, § 163 Rz. 7 f.; Leithoff in Staudinger u.a. (Hrsg.), Nomos Kommentar Versicherungsrecht, 3. Aufl. 2023, VVG § 163 Rz. 18; Krause in Looschelders/Pohlmann, VVG, 3. Aufl. 2016, § 163 Rz. 19 (fortgeführt von Looschelders in 4. Aufl. 2023); Winter in Bruck/Möller, VVG, Bd. 8/1, 9. Aufl. 2013, § 163 Rz. 15.

[16]     Krause in Looschelders/Pohlmann, VVG, 3. Aufl. 2016, § 163 Rz. 19; im Ergebnis ebenso die in Fn. 15 genannten Autoren.

[17]     Ausführlich Wandt, VersR 2015, 918, sowie Wandt in Langheid/Wandt, MünchKomm/VVG, 3. Aufl. 2024, § 163 Rz. 27 ff.

[18]     Nicht gesondert eingegangen wird hier auf die im Zusammenhang mit der Auslegung von § 163 VVG angeführte Zulässigkeit einer Vereinbarung über die Beitragsverrechnung mit Überschüssen, vgl. Krause in Looschelders/Pohlmann, VVG, 3. Aufl. 2016, § 163 Rz. 19. Denn Vereinbarungen über die Verwendung nicht garantierter Überschüsse haben keinen Zusammenhang mit dem Regelungszweck und -inhalt von § 163 VVG.

[19]     So Baroch Castellvi, VersR 2024, 1, 5 f.

[20]     Eingehende Analyse aus aktuarieller Sicht von Engeländer, VersR 2000, 274; Jaeger, VersR 1999, 26.

[21]     Die Entwurfsregelung der VVG-Kommission (§ 156 KomE) sah die Beschränkung des Anwendungsbereichs entsprechend § 172 Abs. 1 VVG a.F. noch vor, Abschlussbericht der VVG-Kommission, VersR-Schriftenreihe, Bd. 25, 2004, S. 256.

[22]     Vgl. Jaeger, VersR 1999, 26, 28; Buchholz-Schuster, NVersZ 1999, 297, 300 f.

[23]     Begr. RegE, BT-Drucks. 16/3945, 99 (linke Spalte). Baroch Castellvi, VersR 2024, 1, 5 sagt hierzu: „Die Aussage des Gesetzgebers, er wollte mit den Änderungen im Wortlaut lediglich Verdeutlichungen gegenüber der vorherigen Rechtslage vornehmen, ist wegen der Erweiterung des Anwendungsbereichs auf kapitalbildende Versicherungen falsch und in der Sache daher von fraglichem Wert“.

[24]     Bemerkenswert ist insoweit auch, dass die Gesetzesbegründung (Begr. RegE, BT-Drucks. 12/6959, 102) nahezu völlig wortgleich aus dem Abschlussbericht der VVG-Reformkommission übernommen worden ist. Die VVG-Reformkommission hatte § 156 ihres Entwurfs jedoch wie § 172 VVG 1994 auf „Versicherungsschutz für ein Risiko, bei dem der Eintritt der Verpflichtung des Versicherers ungewiss ist“, beschränkt (VVG-Reformkommission, Abschlussbericht der VVG-Kommission, VersR-Schriftenreihe, Bd. 25, 2004, S. 256 f.). Diese Beschränkung hat der Gesetzgeber des § 163 VVG, wie dargelegt, nicht fortgeführt, aber die Erläuterung der Reformkommission nahezu wortgleich übernommen. Dies wäre sicher nicht in dieser Weise geschehen, wenn die Verfasser der Gesetzesbegründung zu § 163 VVG mit der Weglassung der Beschränkung des Anwendungsbereichs eine extrem bedeutsame Änderung des Inhalts der Voraussetzungen für die Prämienänderung im Sinne gehabt hätte. Wie dargelegt, sagt die Gesetzesbegründung vielmehr ausdrücklich, dass die Voraussetzungen für die Neufestsetzung der Prämie inhaltlich nicht geändert werden sollten.

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