Wie Versicherer ihren digitalen Reifegrad im Gesundheitssektor erhöhen

Betrachtet man die weltweiten Investitionen in den Digital Health-Sektor, hat Deutschland am gesamten Investitionsvolumina lediglich einen Anteil von 0,5 Prozent. Quelle: Bild von Darko Stojanovic auf Pixabay

Die vergangenen Monate haben uns allen erneut vor Augen geführt, welche Lücken aktuell in Deutschland hinsichtlich der Digitalisierung bestehen. Sie haben jedoch auch gezeigt, welche Schritte in kurzer Zeit möglich sind, wenn das Thema Digitalisierung fokussiert und mit Nachdruck angegangen wird. Ein Gastbeitrag von Shadi Mohadessi, Health Lead beim Beratungsunternehmen Accenture über den digitalen Reifegrad von Versicherungsunternehmen im Gesundheitssektor.

Ganze Branchen haben in Rekordzeit Kernprozesse online abgebildet, Betriebe haben sich und ihre Einheiten unter Verwendung digitaler Hilfsmittel neu sortiert und auch das Arbeiten aus dem „Home-Office“ hat weniger zu Produktivitätsverlusten geführt, sondern eher zu einem vertrauteren Umgang mit digitalen Kommunikationsmitteln wie Video-Konferenzen oder Chats. Nicht unbedingt, weil es zu mehr Effizienz und schlankeren Abläufen oder gar Kosteneinsparung führte, sondern weil der Markt, die Kunden, die Mitarbeiter:innen und generell die äußeren Umstände der Pandemie es so erforderten.

Insgesamt konnte die deutsche Wirtschaft von diesen katalysierenden Strömungen also eher profitieren, auch wenn die Umstände sicherlich weniger dramatisch hätten sein können. Ein Bereich, in dem die Digitalisierungslücke durch die Corona-Pandemie jedoch besonders stark offenbar geworden ist, und in dem ein kurzfristiges Justieren leider nicht möglich war, ist allerdings der Gesundheitsbereich.

Langsame Konzepte für sich schnell wandelnde Bedürfnisse

Funktionierende digitale Infrastrukturen bauen auf einer homogenen Datenlandschaft auf, können Daten einfach und schnell untereinander austauschen, auswerten, neue Erkenntnisse daraus ermöglichen oder schnell durch andere Optionen ergänzt und erweitert werden. All dies ist bislang nur rudimentär oder vereinzelt im Gesundheitssystem zu finden und erschwert den beteiligten Partnern ein schlagkräftiges, vernetztes und effizientes Ökosystem – mit allen damit verbundenen Vorteilen – zu etablieren. Potenziale bleiben so ungenutzt.

Gesetze und Vorschriften folgen vielfach nach wie vor der Intention des Reglementierens und zu wenig der Intention des „Ermöglichens“. Dabei steigt der Bedarf an solchen digitalen Konzepten. Diese Einschätzung spiegeln auch die Zahlen wider: In einer aktuellen Accenture-Erhebung gaben 42 Prozent der Deutschen an, im letzten Jahr digitale Technologie für Belange rund um ihre Gesundheit genutzt zu haben. In Finnland waren es 75 Prozent. Schon 2018 hat die Bertelsmann Stiftung erhoben, dass Deutschland im internationalen Vergleich beim Digital Health-Index auf den hinteren Rängen liegt – und in der Zwischenzeit dürfte sich das nicht gravierend geändert haben.

Betrachtet man die weltweiten Investitionen in den Digital Health-Sektor, hat Deutschland am gesamten Investitionsvolumina lediglich einen Anteil von 0,5 Prozent. Im Vergleich dazu hat die USA beeindruckende 75 Prozent Investitionsvolumina. An Nachfrage nach bzw. Bereitschaft für mehr Digitalisierung in Deutschland mangelt es dabei nicht. Schon heute ist ein Großteil der Versicherten bereit, mehr Digitalisierung im persönlichen Gesundheitsmanagement zuzulassen – mehr noch, es ist ein Bedürfnis entstanden. Von anderen Branchen und alltäglichen Interaktionen kennt man seit Jahren die Vorteile und Möglichkeiten, die im Rahmen von digitalen Nutzererlebnissen auf schnelle, zuverlässige, bequeme und vor allem sichere Art und Weise geschaffen werden können (z.B. im Online-Banking).

Die Herausforderung ist nun, dass mittlerweile viele innovative und global agierende Anbieter aus unterschiedlichen Branchen um diese vorhandenen Bedürfnisse wissen und bereitstehen, diese zu bedienen. Auch Krankenversicherungen – gesetzliche wie private Anbieter – haben das erkannt und stellen sich nun mit entsprechenden Produkten und Services auf, diese Bedürfnisse zu adressieren.

Die ePA als Plattform und Chance verstehen

Für ein Plattformkonzept braucht es die richtigen Rahmenbedingungen. Hier war die elektronische Patientenakte (ePA) ein erster zentraler Vorstoß. Die ePA dient als Grundgerüst für ein digitales Ökosystem, in dem alle Teilnehmer miteinander interagieren und auf die Angebote des anderen aufsetzen – zum Wohle der Patient:innen. Sie soll damit nicht weniger als die digitale Vernetzung des gesamten deutschen Gesundheitssystems leisten, medizinische Arbeitsabläufe und dafür benötigte Informationen digitalisieren und somit transparenter machen.

Derzeit wird das Potenzial der ePA allerdings nicht vollständig ausgeschöpft. Sie erlaubt im jetzigen Spezifikations- und damit Umsetzungszustand lediglich eingeschränkte Funktionalitäten. Um eine stärkere Verbreitung, Akzeptanz, Nutzung – und letztlich auch digitale Innovation im Zusammenhang mit der ePA zu erzielen, wäre es notwendig, die diversen Adaptionshürden zeitnah abzubauen. Im Fokus steht hierbei insbesondere, dass:

  • typische Mehrwertdienste, z.B. von Krankenversicherungen, immer einen umfangreichen und formellen Zulassungsprozess durchlaufen müssen
  • Gesetze und Datenschutzrichtlinien sowie das nunmehr vom Datenschutzbeauftragten der Bundesregierung, Ulrich Kelber, zum 01.01.2022 geforderte feingranulare Berechtigungskonzept eine hohe Eintrittsschwelle darstellen
  • eine Einbindung Dritter (z.B. von eGAs) ebenfalls mit nicht unerheblichen Aufwänden verbunden ist, was die Attraktivität und damit den Innovationsgrad der ePA als universale Plattform schmälert.

Als Folge daraus hinkt der digitale Gesundheitssektor, inklusive den Krankenversicherungen, in Deutschland anderen Ländern rund zehn Jahre hinterher. In Dänemark gibt es eine vergleichbare Aktenlösung beispielsweise bereits seit 2003, in Österreich die elga immerhin schon seit 2015. In der Folge konnten hiesige Marktteilnehmer die eigentlich niedrige Hemmschwelle der Verbraucher, sensible Gesundheitsdaten via digitaler Schnittstellen mit ihrem Versicherer zu teilen, nicht nutzen.

Die Versicherer haben in den letzten Jahren viel dazu gelernt und entsprechende Investitionen auf den Weg gebracht. Daher haben sie jetzt die Chance und sollten auch den Anspruch haben, ihre Rolle und ihre Position als Gestalter der vernetzten Versorgung wahrzunehmen.

Technologische Innovation jetzt fördern

Den Patienten kann so mit der intelligenten Verknüpfung von Daten aus konventionellen Lösungen wie Text-, Video- oder Chatbots geholfen werden, ihre Symptome im Vorfeld eines Arztbesuchs besser einzuschätzen. Intelligente Apps können bei der Behandlung von Symptomen und der Therapie eingesetzt werden. So zum Beispiel bei psychischen Problemen, beim Abnehmen, bei der Rauchentwöhnung, bei Reha-Maßnahmen oder der Einstellung und Dosierung von Medikamenten, wie Schmerzmittel oder Insulin.

Alle Marktteilnehmer müssen daher jetzt dieses Momentum nutzen und zusammen mit Kooperationspartnern aus anderen Gesundheitsbereichen Konzepte und Lösungen für die aktuellen und sich künftig noch weiter wandelnden Ansprüche der Patienten entwickeln. Denn sie sind längst dafür offen. Gerade in der Pandemie haben sie die Vorteile einer digitalen Patientenversorgung erkannt und wurden bereits mit digitalen Versicherungsdienstleistungen und -produkten aus anderen Sparten bedient. Es fehlen lediglich die passenden und transparenten Angebote im Health-Bereich. Der Schlüssel dazu ist die richtige Nutzung und Erhebung von Daten. Hier kann die ePA ein wertvoller Ausgangspunkt sein, auf dessen Fundament die Marktteilnehmer im Gesundheitswesen aufsetzen und zum Wohle der Kunden Allianzen mit anderen Gesundheitspartnern eingehen müssen, um dem Kunden zeitnah weitere Services zu bieten. Dafür müssen jedoch Informationen besser verknüpft, der technische Zugang nutzerfreundlich erleichtert und der digitale Reifegrad eines ganzen Gesundheitssystems insgesamt erhöht werden. Nur so wird es möglich, über alle Aspekte einer ganzheitlichen Gesundheitsversorgung hinweg digital und effizient miteinander zu interagieren – also vom Arztbesuch, über die Laborergebnisse, die Apotheken, die Reha-Maßnahmen, Medikationserfolge bis hin zu den Krankenversicherungen. Eine solche von Versicherungen gesteuerte Plattform erlaubt ihnen nicht nur näher am Kunden zu sein, sondern senkt auch die Kosten, wenn der Patient sich teilweise selbst verwaltet oder Präventionsmaßnahmen zur Krankheitsvermeidung besser in Anspruch nimmt. Wenn GKV und PKV jetzt nicht daran arbeiten, Modelle für ein ePA-basiertes Plattformökosystem zu entwickeln, überlassen sie mittel- bis langfristig das Spielfeld anderen. Und diese anderen Player lernen schnell und verstehen es gut, sich die Vorteile, die etablierte Marktteilnehmer den Kunden noch bieten, anzueignen und – angereichert mit innovativer Technologie – in ihre Geschäftsmodelle zu integrieren.

Zu Autor und Unternehmen: Die Accenture Plc mit Sitz im irischen Dublin ist einer der weltweit größten Dienstleister im Bereich der Unternehmens- und Strategieberatung sowie Technologie- und Outsourcing. Frau Shadi Mohadessi ist Health Lead bei Accenture in Deutschland.