Wird 2020 zur europäischen Belastungsprobe?

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Eigentlich wollte die Europäische Union schon Ende 2019 durchstarten. Am 31. Oktober, so war es geplant, sollte Großbritannien aus der EU ausscheiden. Einen Tag später, am 1. November, wollte Ursula von der Leyen (CDU) ihr neues Amt als Präsidentin der EU-Kommission antreten. Der „Aufbruch für Europa“, den die große Koalition in Berlin versprochen hat, würde so endlich Gestalt annehmen. Doch es ist anders gekommen.

Der Brexit wurde ebenso vertagt wie der Amtsantritt des Teams von der Leyen. Manches von dem, was schon 2019 erledigt werden sollte, wird nun auf 2020 verschoben. Neben dem Brexit gilt dies vor allem für den mittelfristigen Finanzrahmen – also das neue EU-Budget für die Jahre 2021 bis 2027.

Auch er ist im Ringen um die neue EU-Kommission liegen geblieben. Dabei ist das neue Europa-Jahr ohnehin schon überladen mit wichtigen Themen und Entscheidungen. Zwei Termine stechen heraus: Der Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft am 1. Juli – und die Präsidentschaftswahlen in den USA am 3. November. Beide Ereignisse dürften die Europäer in ihren Bann ziehen. 2020 wird zur Bewährungsprobe für die EU und die transatlantischen Beziehungen.

Zunächst steht aber die britische Frage im Raum. Der Brexit wurde auf Ende Januar 2020 vertagt, er könnte aber auch schon früher, etwa am 1. Januar, vollzogen werden. Die Chancen sind jedenfalls leicht gestiegen, nachdem Premierminister Boris Johnson bei den jüngsten Unterhaus-Wahlen eine absolute Mehrheit für die Konservativen eingefahren hat.

Mit der fulminanten Rückendeckung der britischen Wähler könnte der Tory-Politiker sein Land schneller aus der EU führen, als vereinbart. Der Brexit wäre damit aber immer noch nicht erledigt. Im Gegenteil: Der harte Teil kommt erst noch – und er dürfte das gesamte Jahr überschatten. Brüssel und London müssen nämlich noch ein Freihandelsabkommen aushandeln.

Dies dürfte nicht nur zu neuen Spannungen auf beiden Seiten des Kanals führen, sondern auch zu Problemen innerhalb der EU. Die bisher vorbildliche Einheit ist gefährdet. Denn wenn es um Themen wie Fischerei, Forschung oder Freizügigkeit geht, dann gehen die Interessen der 27 verbleibenden EU-Länder weit auseinander. Auch die künftige Zusammenarbeit mit Großbritannien in der Außen- und Sicherheitspolitik ist ein großes Thema. Die Zeit drängt: Ende 2020 läuft die vereinbarte Übergangszeit für den Brexit aus. Was danach kommt, weiß niemand.

Ohne eine rechtzeitige Einigung droht der Fall in ein schwarzes Loch. Manche sprechen schon von einem zweiten „No Deal“, also einem ungeregelten Austritt. Ausgerechnet das Worst-Case-Szenario, das im Herbst 2019 mit Mühe abgewendet wurde, könnte sich Ende 2020 wiederholen.

Gutes oder schlechtes Klima?

Auch die Klimakrise wird Europa im neuen Jahr beschäftigen. Von der Leyen hat versprochen, in den ersten hundert Tagen nach ihrem Amtsantritt eine umfassende Klimagesetzgebung vorzulegen. Der „Green Deal“ soll sicherstellen, dass die EU in der Klimapolitik führend bleibt.

„Wir können und müssen es schaffen, dass Europa bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent ist“, so von der Leyen. Zugleich geht es aber auch darum, das Wachstum anzukurbeln und neue Jobs zu schaffen. Vor dem Hintergrund der schwächelnden Konjunktur und der globalen Handelskriege wird dies keine leichte Aufgabe. Vor allem das größte EU-Land, Deutschland, steht unter Druck. Brüssel fordert, dass die Bundesregierung mehr investiert, um die drohende Rezession abzuwenden und andere Länder mitzuziehen.

Deutschland kommt jedoch noch aus einem anderen Grund eine Schlüsselrolle zu. Berlin übernimmt am 1. Juli 2020 den halbjährlich wechselnden EU-Ratsvorsitz. Dann, so die Erwartung in Brüssel, soll die Bundesregierung für eine zügige Umsetzung des neuen Klimapakets sorgen. Angela Merkel soll wieder zur „Klimakanzlerin“ werden – auch wenn sie dabei über ihren eigenen Schatten springen muss.

Ebenfalls unter deutschem EU-Vorsitz im 2. Halbjahr 2020 wird ein Beschluss zum mittelfristigen Finanzrahmen erwartet. EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger fordert eine Erhöhung des Gemeinschafts-Budgets auf 1,114 Prozent der Wirtschaftsleistung. Die Bundesregierung will jedoch nur 1,0 Prozent bewilligen und den bisher üblichen Sonderrabatt behalten. Deshalb liegt Streit in der Luft.

Von der Frage, wie der Budgetstreit gelöst wird, hängt viel ab. Von der Leyen und Oettinger warnen, dass sich viele EU-Ziele ohne ausreichende Finanzausstattung nicht erreichen ließen. Das gilt nicht nur für den „Green Deal“, das zentrale Vorhaben der neuen EU-Kommission, sondern auch für andere neue Aufgaben wie die Verteidigung oder die Förderung der Künstlichen Intelligenz. Kanzlerin Merkel hat es 2020 in der Hand, von der Leyen zu unterstützen – oder auszubremsen. In Berlin werden, wenn nicht alles täuscht, die entscheidenden Weichen gestellt. Dies ist auch der Grund, weshalb die Europapolitiker in Brüssel besorgt auf die Krise der Großen Koalition blicken. Sollte die Groko stürzen, so könnte dies die Pläne der EU über den Haufen werfen.

Von der Leyen will es nicht auf offenen Konflikt mit den USA ankommen lassen

Noch größere Sorge gilt der Präsidentschaftswahl in den USA. Im Wahlkampf könnte US-Präsident Donald Trump neue protektionistische Maßnahmen verhängen, fürchtet man in Brüssel. Wenn Trump mit China „fertig“ ist, könnte er sich Europa zuwenden und neue Strafzölle verhängen, zum Beispiel gegen Autos made in Germany. Auch diese Drohung überschattet den Start der neuen EU-Kommission.

Schon jetzt sind die transatlantischen Beziehungen zum Zerreißen gespannt. Dies führt auch zu Streit in der EU. So fordert Frankreich ein härteres Vorgehen gegen die USA, um auf Trumps Ausstieg aus dem Klimaabkommen von Paris zu reagieren. Deutschland steht jedoch – nicht zuletzt aus Furcht vor neuen US-Strafzöllen – auf der Bremse. Auch in der NATO liegen die Nerven blank.

Für die neue Kommissionspräsidentin von der Leyen ist das ein Problem. Schließlich will sie die Außen- und Sicherheitspolitik zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit machen; die neue Kommission soll „geopolitisch“ werden. Europa müsse „die Sprache der Macht“ lernen, erklärte die ehemalige deutsche Verteidigungsministerin in einer Rede zum 30. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin.

Doch auf einen offenen Konflikt mit den USA will sie es nicht ankommen lassen. Anders als Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron ist von der Leyen nicht bereit, auf Gegenkurs zu Washington zu gehen. Doch was passiert, wenn der Wahlkämpfer Trump auf Konfrontation mit der EU setzt? Und worauf muss sich Europa einstellen, wenn Trump die Wahl gewinnt? Das sind bange Fragen, mit denen die EU ins neue Jahr geht. Antworten hat sie noch nicht.

Autor: Eric Bonse

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