Schaut die Öffentlichkeit auf die falschen Solvenzquoten? – ein Plädoyer für die Volatilitätsanpassung

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Das Lesen von Solvency-Berichten ist einfach. Je höher die Quote, desto stabiler das Unternehmen. Doch, Sie ahnen es bereits, so einfach ist es nicht. Dennis Hofmann, „Leiter Bewertungsmodelle“ und Dr. Jost Homrighausen, „Leiter Risikomodelle“, von der HDI haben in ihrem Gastbeitrag die Probleme bei der Solvenzbeurteilung dargestellt und kommen von der Volatilitätsanpassung bis zu Einstein.

Nach der Einführung von Solvency II, dem neuen europäischen Aufsichtsregime für Versicherungsunternehmen, zum 01.01.2016 sind die Unternehmen im Jahresabschlussverpflichtet, ihre aktuellen Solvenzergebnisse zu veröffentlichen. Die sehr umfangreichen Anforderungen an den sogenannten „Bericht über die Solvabilität und Finanzlage“ (Solvency and Financial Condition Report, kurz: SFCR) führen zu einer Informationsflut für den Leser dieser Berichte. Will man sich einen Marktüberblick über die Solvenzsituation der Versicherer verschaffen, so muss man sich durch umfangreiche Berichte arbeiten, in denen die Geschäftstätigkeit, das Governance-System, das Risikoprofil oder das Kapitalmanagement beschrieben wird. Da erscheint es am einfachsten, sich der Einschätzung der Risikolage über die zentrale Kennziffer innerhalb von Solvency II, die sogenannte Bedeckungsquote, zu nähern. Diese gibt an in welchem Maße die Solvabilitätskapitalanforderung mit Eigenmitteln bedeckt ist, d. h. in welchem Umfang das Unternehmen Kapital für eine Krisensituation vorhält. Mit Hilfe dieser Quoten lassen sich dann sehr einfach Ranglisten der verschiedenen Versicherer erstellen, was einen schnellen Überblick ermöglicht.

Doch hier fängt das Problem bereits an: Eine ganze Reihe von Versicherern veröffentlichen verschiedene Solvenzquoten oder zumindest Ergebnisse, mit denen sich schnell verschiedene Bedeckungsquoten berechnen lassen. Hier sind vor allem die Übergangsmaßnahmen, aber auch die Volatilitätsanpassung (VA) zu nennen. Die beschriebenen Maßnahmen werden von einigen Unternehmen angewendet, von anderen nicht. Im Bestreben, nur Daten zu vergleichen, die auch vergleichbar sind, wird daher häufig auf Solvenzquoten ohne diese beiden Maßnahmen abgestellt, da alle Unternehmen diese veröffentlichen müssen.

Bezüglich der Übergangsmaßnahmen für die bereits vor Einführung von Solvency II vorhandenen Bestände ist dies auch tatsächlich ein sinnvoller Vergleich. Zwar war es sehr ratsam, dass den Unternehmen mittels der Übergangsmaßnahmen bei Einführung von Solvency II ein gewisser Zeitraum zur Anpassung eingeräumt wurde, da schnelle Umwälzungen aufgrund der Größe der Bestände und der Langfristigkeit des Geschäfts im Lebensversicherungsbereich nicht möglich und auch, nicht zuletzt aus Kundensicht, nicht uneingeschränkt wünschenswert sind. Ein Vergleich der Quoten ohne Übergangsmaßnahmen gibt aber somit bereits heute einen Überblick, wie weit die Unternehmen beim Übergang auf Solvency II fortgeschritten sind bzw. in welchem Maße sie von solchen „Altlasten“ noch betroffen sind.

Bei der Volatilitätsanpassung verhält es sich aber anders. Sie ist eine der sogenannten „Long Term Guarantee“-Maßnahmen (LTG-Maßnahmen) und als solche nicht nur für den Übergang auf Solvency II eingeführt worden, sondern auf Dauer angelegt. Dieser Umstand wird leider häufig ignoriert. Außerdem ist klarzustellen, dass die Verwendung der VA keine pauschale Erleichterung für Versicherungsunternehmen darstellt, sondern für Unternehmen, die ihren Versicherungskunden langfristige Garantien ausgesprochen haben, zu einer angemesseneren Risikobewertung führt.

Einer der Grundsätze der ganzheitlichen Risikobetrachtung unter Solvency II ist der Ansatz zu Marktwerten. Daher werden für die Risikobewertung Kapitalmarktdaten zum Bewertungsstichtag herangezogen. Diese bilden sich durch das Zusammenspiel vieler Marktteilnehmer und unterliegen starken Schwankungen, häufig auch sehr kurzfristig. Nun ist aber das Geschäftsmodell der Versicherer gerade durch seine Langfristigkeit geprägt. Dies gilt insbesondere für die Lebensversicherung, aber auch die Abwicklungen einzelner Sparten im Schaden-Unfall-Versicherungsgeschäft sind langfristig angelegt.

Diese Langfristigkeit ihrer Verpflichtungen berücksichtigen Versicherer in ihrem sogenannten Asset-Liability-Management, sie stimmen also die Laufzeiten ihrer Kapitalanlagen auf die zukünftig zu erwartenden Zahlungsflüsse aus der Versicherungstechnik ab. Viele Versicherer sind in der Lage mit einem Großteil ihres Kapitalanlageportfolios als sogenannter „Buy-and-Hold-Anleger“ zu agieren. Ein solcher Anleger kann seine Anleihen bis zum Ende der Laufzeit halten, ohne sie zwischenzeitlich in ungünstigen Marktsituationen verkaufen zu müssen. Damit lassen sich die Marktpreisschwankungen also sozusagen „aussitzen“. Dies trifft nicht auf alle Marktteilnehmer zu, ansonsten wären Anleihenmärkte nicht in dem Umfang liquide wie sie es in großen Teilen sind und es würde nicht zu solch volatilen Änderungen der Märkte kommen. Hier ist also ein systematischer Unterschied zwischen Versicherern und anderen Marktteilnehmern, wie z. B. Banken, festzustellen.

Bei einer reinen Nutzung der Marktdaten für die Risikobewertung wird also ein Risiko unterstellt, dem viele Versicherer de facto gar nicht ausgesetzt sind. Die Aufgabe der Volatilitätsanpassung ist es, diesen Anteil des Risikos zu eliminieren und so zu einer für diese Versicherer angemessenen Risikobewertung zu kommen. Dabei wirkt die VA als Aufschlag auf die Zinskurve und berücksichtigt den Umstand, dass ein Versicherer durch das oben erwähnte „Aussitzen“ von ungünstigen Marktphasen keine Abschläge in den Renditen, die in solchen Phasen entstehen, erleidet.

Die absolute Höhe der VA wird von der europäischen Aufsichtsbehörde EIOPA festgelegt und kann somit nicht frei vom Versicherungsunternehmen gewählt werden. Um die VA in den Solvency II Berechnungen anwenden zu dürfen, ist eine Genehmigung durch die deutsche Aufsichtsbehörde Bafin erforderlich. Dazu sind einerseits bereits bei der Beantragung verschiedene Voraussetzungen zu erfüllen und Nachweise zu erbringen, andererseits ergeben sich bei der Anwendung der VA auch im laufenden Betrieb zusätzliche, regulatorische Anforderungen an das Risikomanagement des Unternehmens. Diese beschäftigen sich mit seiner Kapitalanlagepolitik und dienen dem Nachweis, dass die Anwendung der VA für das spezifische Unternehmen einerseits angemessen und andererseits mit dem Schutz der Versicherungsnehmer als vorrangiges Ziel von Solvency II vereinbar ist.

Die Nutzung der VA steht also nur solchen Versicherungsunternehmen offen, die sie auch bei konservativer Betrachtung schlüssig und fundiert begründen können. Die generelle Risikotragfähigkeit oder Finanzlage des Unternehmens spielt für die Genehmigung keine Rolle, es handelt sich also nicht um eine „Hilfsmaßnahme“ für notleidende Unternehmen.

Es lässt sich festhalten, dass die VA ein sinnvolles und angemessenes Konzept ist, welches für viele Unternehmen geeignet ist, um zu einer angemessenen Risikobewertung zu kommen. Es eliminiert ein vermeintliches Risiko, dem viele Versicherer de facto nicht ausgesetzt sind und ist dabei durch einen eingerechneten Sicherheitsabschlag sogar noch vorsichtig gewählt. Durch die vielen zusätzlichen Anforderungen, die bei Anwendung der VA zu erfüllen sind, wird sichergestellt, dass nur Unternehmen die VA nutzen, für die ihre Anwendung auch gerechtfertigt ist.

Um auf den eingangs skizzierten Vergleich der verschiedenen Solvenzquoten zurückzukommen, so kommt die Sicht inklusive VA aus unserer Sicht zu schlecht weg. Sie wird zu Unrecht gemeinsam mit den Übergangsmaßnahmen bereinigt und auf dem Altar der Vergleichbarkeit geopfert.

Wir haben im vorliegenden Artikel erläutert, dass es sich bei der VA nicht um eine pauschale Erleichterung mit dem Ziel besserer Solvenzergebnisse handelt, sondern dass es inhaltlich gute Gründe gibt, warum eine Sicht mit VA angemessener sein kann als die Sicht ohne VA. Daher ist die Verwendung einer VA auch auf Dauer und nicht als Übergangsmaßnahme angelegt. Gleichwohl hängt die Anwendung der VA stark davon ab, dass die implizit enthaltenen Annahmen für das einzelne Unternehmen erfüllt sind und zu seiner Kapitalanlagestrategie passen. Dies muss jedes Unternehmen für sich prüfen und die Frage beantworten, welche der beiden Sichten besser geeignet ist, um die eigene Risikosituation angemessen abzubilden. Das haben die Unternehmen in aller Regel getan, indem sie die Nutzung der VA bei der BaFin beantragt haben oder eben nicht. Ob ein externer Leser von SFCR-Berichten diese höchst individuelle Einschätzung besser beherrscht als die Unternehmen selbst, erscheint uns höchst fraglich. Die vermeintlich bessere Vergleichbarkeit der Sicht ohne VA ignoriert dabei vollständig den komplexen und aufwändigen Prüf- und Entscheidungsprozess, welcher in den Unternehmen erfolgt ist. Aus diesem Grund plädieren wir dafür, dass für die durch die Unternehmen getroffene Wahl, ob eine VA verwendet wird oder nicht, derselbe Maßstab angelegt wird wie für die Vielzahl anderer, individueller Annahmen und Parametrisierungen, die in die Solvenzberechnungen eingehen. Diese sind bekanntermaßen durchaus sehr ergebnisrelevant, aber eben individuell und mangels veröffentlichter Daten dazu muss der externe Leser der Einschätzung des Unternehmens vertrauen. Diese Haltung sollte man trotz Veröffentlichungspflicht der Sicht ohne VA auch beim Vergleich von Solvenzquoten konsequent durchhalten und dem von Albert Einstein so treffend formulierten Prinzip folgen: „Man muss die Dinge so einfach wie möglich machen. Aber nicht einfacher!“