Customer Experience in der Assekuranz: Der CX-Score 2024 zeigt Lücken und Handlungsbedarfe für Versicherer
Die Erwartungen der Kunden im Kontakt mit ihrem Versicherer steigen kontinuierlich, insbesondere im Bereich digitaler Angebote. Dennoch gelingt es der Branche bisher nicht, diesen Ansprüchen in allen Bereichen gerecht zu werden, wie ein aktuelles CX-Score-Ranking von msg zeigt. Die großen Player wie Allianz, R+V und Ergo sind auch die Bestplatzierten.
Das CX-Score-Ranking: Ein Überblick
In einem Marktforschungsprojekt hat msg untersucht, wie gut die Versicherungsbranche die funktionalen Voraussetzungen für ein exzellentes digitales Kundenerlebnis erfüllt. Der Untersuchung zu Grunde liegende CX-Score wurde von den Autoren des Praxisleitfaden Customer Centricity (Springer, 2021) in Kooperation mit dem Institut für Marketing der LMU München entwickelt.
Der CX-Score misst die digitale Customer Experience (CX) in drei Bereichen: passive CX (Informationen, die Kunden konsumieren können), aktive CX (Möglichkeiten zur aktiven Teilnahme der Kunden) und Point of Sale (Services und Angebote rund um den Online-Vertragsabschluss). Die Untersuchung zeigt zudem, wie gut verschiedene Funktionalitäten und Services in den Markenauftritt integriert sind, um eine gute digitale Kundenbeziehung aufzubauen. Analysiert wurden dabei die Top-50-Versicherer nach Umsatz in Deutschland, basierend auf ihrem Online-Markenauftritt. Ergänzend wurden von msg 1.011 Verbraucher befragt, um deren Sicht auf das Kundenerlebnis und ihre Erwartungen an Informations- und Beratungsangebote im Versicherungskontext zu erfassen (Befragung im Juni 2024).
Die Ergebnisse der Studie zeigen auf, in welchen Bereichen die Versicherungsbranche noch Nachholbedarf hat und welche Bedürfnisse der Kunden noch nicht vollständig erfüllt werden. Der durchschnittliche CX-Score liegt bei 57 von 100 möglichen Punkten, was darauf hinweist, dass das digitale Kundenerlebnis in vielen Fällen hinter den Erwartungen der Kunden zurückbleibt. Besonders sichtbar wird dies, wenn man berücksichtigt, dass die Bestplatzierten, R+V (84 Punkte), Allianz (81 Punkte) und Ergo (78 Punkte) den Durchschnitt deutlich nach oben ziehen. Dies unterstreicht den insgesamt erheblichen Handlungsbedarf in der Branche.
Stärken und Schwächen der digitalen Customer Experience
Während die Versicherungsbranche in der passiven Customer Experience gut abschneidet und hier teilweise branchenübergreifend mithalten kann, zeigt der CX-Score erhebliche Defizite in der aktiven CX und im digitalen Vertragsabschluss.
Passive Customer Experience: In der passiven CX, die sich auf informative und beratende Angebote konzentriert, schneidet die Versicherungsbranche mit einem Teilscore von 74 Punkten gut ab. Damit liegt die Branche etwa gleichauf mit den Bereichen Haushaltsgeräte und Consumer Electronic. In vielen Bereichen wird der Kundenbedarf hier sehr gut bedient. Besonders wichtig sind für die Kunden Inhalte und Funktionen, die sie in ihrer Kaufentscheidung unterstützen, etwa toolbasierte Entscheidungshilfen, wie Kalkulatoren oder Vorsorge-Checks. Etwas mehr als zwei Drittel der Befragten empfinden diese Angebote als wichtig und fast alle Anbieter stellen solche Tools und Beratungsangebote bereit. Rein redaktionelle Inhalte werden zwar ebenfalls von 74 % der untersuchten Unternehmen angeboten, was aber lediglich von 29 % der Kunden erwartet wird. Insgesamt erfüllen im Bereich der passiven CX gut die Hälfte der untersuchten Versicherungsanbieter sämtliche Kundenerwartungen.
Point of Sale: Neben den informativen und beratenden Angeboten erwarten Kunden zunehmend einendigitalen Vertragsabschluss. 71 % der befragten Verbraucher halten dies für wichtig oder sogar sehr wichtig. Dennoch bieten nur 10 der 50 untersuchten Versicherer sämtliche Versicherungsprodukte auch online an, während 14 Unternehmen entweder gar keine Möglichkeit zu einem Online-Abschluss bereitstellen oder lediglich eine kleine Auswahl aus ihrem Produktportfolio.
Mit einem durchschnittlichen Teilscore von 66 Punkten am Point of Sale liegt der Reifegrad der digitalen Angebote rund um den konkreten Vertragsabschluss hinter dem Segment der passiven Customer Experience zurück. Besonders auffällig ist, dass der Kundenbedarf bei der Online-Liveberatung nicht erfüllt wird: 60 % der Kunden würden dieses Angebot sehr gerne nutzen, aber nur 16 % der Versicherer bieten dies bereits an.
Aktive Customer Experience: Aus Kundensicht besteht der größte Nachholbedarf aber in der aktiven Customer Experience. Das sind die Bereiche, in denen der Kunde selbst eine aktivere Rolle einnimmt. Hier liegt der durchschnittliche Teilscore lediglich bei 39 Punkten. Von den 50 gerankten Unternehmen erreichen 38 nicht einmal die Hälfte der möglichen Punkte.
Besonders stark vermissen Kunden Serviceangebote wie Produktbewertungen, Erfahrungsberichte oder Austauschformate mit anderen Kunden. Beispielsweise wünschen sich mehr als zwei Drittel der Befragten Erfahrungsberichte von anderen Kunden, aber nur 6 % der Versicherer bieten diese Inhalte an.
Der Bereich der aktiven CX bietet Versicherern das größte Differenzierungspotenzial gegenüber ihren Wettbewerbern, da der Bedarf seitens der Kunden vorhanden ist, aber das Angebot noch stark hinterherhinkt.
Michael Nenninger, Geschäftsbereichsleitung Digital Consulting bei msg, sieht in diesem Benchmark-Ranking eine große Chance für Versicherer, eine Außenperspektive zu erhalten und Lücken in der eigenen funktionalen Customer Experience zu entdecken. „Der Kundenbedarf wird heute zugunsten regulatorisch notwendiger Maßnahmen und interner Prozesse oft vernachlässigt. Durch ein konsequentes Denken und Handeln vom Kunden aus – unter Berücksichtigung der Regulatorik – können Versicherer Differenzierungspotenziale erschließen und im Wettbewerb um Marktanteile, insbesondere gegenüber neuen Marktteilnehmern wie Lemonade, punkten“, erklärt Nenninger.
Differenzierungspotenzial für eine gute Kundenbeziehung entlang der gesamten Customer Journey
Eine gute Customer Experience bietet die Möglichkeit, sich im Wettbewerbsumfeld durch einzigartige Funktionalitäten und Services zu differenzieren, um sich in einem Markt mit sehr vergleichbaren Produkten vom Wettbewerb abzusetzen.
Versicherer, die über die Customer Experience eine frühzeitige und langfristige Kundenbeziehung aufbauen wollen, sollten sich mit den folgenden Bereichen intensiver auseinandersetzen:
Entscheidungsunterstützung: Im Dickicht der Versicherungsangebote können Versicherer punkten, indem sie ihren Kunden mit vielfältigen Funktionen Orientierung bieten. 83 % der Kunden erwarten eine umfassende redaktionelle Beratung und über die Hälfte wünscht sich personalisierte Versicherungsempfehlungen oder Tools, die spielerisch zum passenden Versicherungsprodukt leiten. Hier besteht die Chance, sich durch innovative, etwa auch KI-gestützte Angebote am Markt zu differenzieren und Kunden einen echten Mehrwert in der Entscheidungsfindung zu bieten.
Feedback und Empfehlung: Verbrauchern ist es nicht nur wichtig, Empfehlungen von Kunden zu erhalten, wie etwa in Form von Bewertungen und Erfahrungsberichten (67 %), sie möchten auch die Gelegenheit haben, selbst aktiv Feedback zu geben (68 %). Der in vielen anderen Branchen, z. B. Consumer Electronic, Haustechnik, Sport und Outdoor, immer häufiger anzutreffende Service, dass Kunden sich direkt untereinander austauschen können, wird von knapp der Hälfte der Kunden als wesentlich angesehen. Zwar geben die meisten Versicherer die Möglichkeit, sich mit Feedback an das Unternehmen zu wenden (90 %), allerdings lassen nur 6 % der Versicherer zu, dass Kunden aktiv eigene Inhalte (User generated content) veröffentlichen.
Belohnung & Incentivierung: Kunden erwarten, dass sie für ihre Treue belohnt werden. Die Kundenbindungsprogramme anderer Branchen setzen hier einen klaren Maßstab, der von der Versicherungsbranche allerdings nur zu 34 % bedient wird. 70 % der Versicherer bieten zwar ein Empfehlungsprogramm zur Werbung von Neukunden an, aber wenn es darum geht, die Treue und langjährige Beziehung der Kunden mit ihrem Versicherer über Anreizsysteme zu fördern ist noch deutlich Luft nach oben.
Mehrwert-Services: 66 % der befragten Kunden gaben an, dass Services, die über die eigentliche Versicherungsleistung hinaus gehen, wichtig für sie wären. Genauer nachgefragt gaben sogar 70 % an, einen „Service aus einer Hand“ beispielsweise im Kontext „Umzug“ (*Anmeldung Stromversorger/ Meldung Wohnsitz bei Behörde/ Nachsendeauftrag/ Ummeldung Kfz/ Organisation Reinigungsservice etc.) in Betracht zu ziehen. Aus Kundensicht spricht für solche Angebote, neben dem Komfort- und Zeitersparnisgedanke, vor allem das Gefühl von Sicherheit und Arbeits- bzw. Stressreduktion. Das trifft besonders auf die jüngere Generation der unter 25-Jährigen zu.
Die junge Zielgruppe hat wenig Bedarf an Kontakt mit ihrer Versicherung
Eine vertiefte Auswertung zu den Bedürfnissen der jungen Zielgruppe zeigt, dass diese zunehmend schwerer zu erreichen ist. Direkter Kontakt, sei es über eine Hotline, den Kundenservice oder die Geschäftsstelle, ist dieser Zielgruppe im Vergleich zu anderen Altersgruppen deutlich weniger wichtig, und zwar um durchschnittlich 13 Prozentpunkte. Stattdessen bevorzugen sie digitale Interaktionen wie Chatbots (54 %), die als fast genauso wichtig erachtet werden wie persönliche Berater (57 %). Gleichzeitig legen sie größeren Wert auf das Thema Nachhaltigkeit (knapp 10 Prozentpunkte mehr als in der Grundgesamtheit). Aus der Erfahrung mit Influencern scheint auch der Bedarf an Referenzen und Testimonials begründet. Über 50 % der jungen Menschen wünschen sich solche Empfehlungen. Ebenfalls dem Social-Media-Umfeld entspringen könnte der Wunsch nach interaktiven Formaten wie Challenges (45 % – im Vergleich zu 33 % in anderen Altersgruppen).
Kundendaten als Chance für eine verbesserte Customer Experience
Eine gute Customer Experience setzt voraus, dass Unternehmen die Bedürfnisse ihrer Kunden genau kennen. Alle analysierten Funktionalitäten wurden in den Kontext der Kundendaten gesetzt, d. h. es wurde erfasst, welche Kundendaten-Typen über welche Analyse-Cluster direkt über den Markenauftritt generiert werden können. Dabei zeigt sich, dass das Potenzial über den eigenen Markenauftritt relevante Kundendaten zu sammeln noch weitgehend ungenutzt bleibt.
Auffällig ist, dass vor allem Funktionen, bei denen Versicherer sogenannte „Social Daten“, also Daten zu Interessen, Wünschen oder der Lebenssituation, erhalten könnten, stark unterrepräsentiert waren. Nur wenige Versicherer, wie etwa die Allianz, bieten potenziellen Kunden bereits vor Vertragsabschluss die Möglichkeit, einen Account anzulegen, um beispielsweise Angebote, für die sie sich interessieren, zu speichern.
Personalisierte Empfehlungen für passende und relevante Versicherungsprodukte, die im E-Commerce längst etabliert sind, werden nur von 30 % der Unternehmen bereitgestellt, wohingegen 55 % der Verbraucher sich dies wünschen würden. Personalisierte Daten werden bei fast allen Versicherern erst in der Angebots- oder Abschlussphase der Kundenreise generiert. Hier lassen die Unternehmen noch viel Potenzial auf der Straße liegen. So erfassen nur rund ein Drittel der untersuchten Versicherer strukturierte Bedürfnisdaten, beispielsweise über Merkzettel oder eine Interessensabfrage bei der Newsletter-Anmeldung. Dabei tragen genau solche Features maßgeblich dazu bei, dass Unternehmen mehr über die Bedürfnisse ihrer Kundschaft erfahren. Solche Daten, bekannt als „Zero-Party-Data“, sind besonders wertvoll, da sie direkt vom Kunden bereitgestellt werden und zur Personalisierung der gesamten Customer Journey genutzt werden können.
Mit Mehrwert-Services der fragmentierten Customer Journey begegnen
Der Fokus der digitalen Customer Experience liegt in der Versicherungsbranche überwiegend auf den Phasen „Information“ bis „Aftersales“. Die frühen Phasen der Customer Experience werden immer noch eher vernachlässigt oder nur mit rein redaktionellen Angeboten bespielt.
Ein Blick auf den branchenübergreifenden Spitzenreiter Samsung (94 von 100 Punkten) zeigt, wie es gelingen kann, den Kunden über die gesamte Customer Journey zu begleiten, relevante Daten zu generieren und wiederholt anzusprechen. Die stark vereinfachte Abbildung einer Samsung Customer Journey veranschaulicht dies.
Wie es aussehen könnte, (potenzielle) Versicherungskunden in einem thematischen Kontext durchgängig an die digitalen Angebote zu binden, veranschaulicht die stilisierte Customer Journey im Kontext Wohnen.
Heutzutage werden oft einzelne Services wie Ratgeberinhalte zum Thema Mieten oder Tipps rund um den Umzug zwar angeboten, aber nur vereinzelt und nicht über alle Phasen hinweg. Jedes der im Beispiel genannten Serviceangebote steht für sich. Ob der Kunde eines dieser Angebote wahrgenommen hat und ob dies zur Entscheidung für die Versicherung beigetragen hat, wird nicht ersichtlich. Häufig wird ein Consent für eine Ansprache des Verbrauchers erst in der Angebotsphase eingeholt. Bietet man jedoch schon sehr früh einen Mehrwert für den Verbraucher sich zu registrieren, dann kann es gelingen, die gesamte Customer Journey durchgängig zu begleiten.
Fazit
Die Versicherungsbranche hat in Bezug auf die Nutzung von Kundendaten und die Gestaltung einer durchdachten digitalen Customer Experience noch erhebliches Potenzial. Die gezielte Erhebung von „Social Daten“ und die frühzeitige Einbindung personalisierter Angebote könnten dazu beitragen, die Kundenbindung zu stärken und die Customer Journey effektiver zu gestalten. Versicherer, die diese Herausforderungen annehmen und ihre digitalen Angebote entsprechend ausbauen, können sich im Wettbewerb differenzieren und langfristig erfolgreichere Kundenbeziehungen aufbauen.
Autorin: Melanie Seidel ist Principal Business Consultant bei msg und seit 20 Jahren in digitalen Geschäftsfeldern aktiv. Als Autorin des Praxisleitfadens „Customer Centricity“ plädiert sie für eine data driven Customer Experience.