Accenture-Geschäftsführer Heyen: „Die Stilllegung von Altsystemen ist eine der großen Aufgaben für die nächsten Jahre“

Markus Heyen, Geschäftsführer und Leitung Versicherungen Deutschland bei Accenture. Quelle: Accenture

Die Corona-Krise hat sich 2020 als regelrechter Digitalisierungstreiber für die Versicherer erwiesen. „Der Blick auf den aktuellen Digitalisierungsgrad zeigt allerdings noch ein Spiel aus Licht und Schatten“, glaubt Markus Heyen. Im Exklusiv-Interview mit VWheute spricht der Accenture-Geschäftsführer über digitale Lücken und Cloudifizierung.

VWheute: Der Begriff „Digitalisierung“ geistert bereits seit Jahren durch die Vorstandsetagen der Versicherer: Wie bewerten Sie den aktuellen Digitalisierungsgrad der Branche? Und wie innovativ schätzen die Branche auf diesem Gebiet ein?

Markus Heyen: Die deutschen Versicherer arbeiten auf Hochtouren an der Digitalisierung. Der Blick auf den aktuellen Digitalisierungsgrad zeigt allerdings noch ein Spiel aus Licht und Schatten. Im Grunde arbeiten alle Versicherer an Digitalisierungsprozessen, die nahezu immer mit einer Cloudifizierung einhergehen. Fast jede Versicherung hat heute bereits in irgendeiner Form digitalisierte Prozesse an der Kundenschnittstelle an den Start gebracht, zum Beispiel in Form von Chatbots oder einem Self-Service-Portal. Nachholbedarf weisen vor allem die Prozesse im Middle- und Back-Office auf, denn viele Versicherungsunternehmen arbeiten nach wie vor mit Legacy-Systemen deren digitale Aufrüstung noch aussteht. Selbstverständlich gibt es auch einige Häuser, die bereits Cloud-Bestandsführungssysteme haben und in Sachen Kundenzentrierung sehr weit sind, doch das ist bisher eher die Ausnahme.

Versicherer haben die Notwendigkeit der Modernisierung erkannt und arbeiten daran, die erforderlichen Schritte umsetzten, auch wenn man dabei noch nicht von Innovationsführerschaft sprechen kann. Branchenweit ist die Stilllegung von Altsystemen eine der großen Aufgaben für die nächsten Jahre. Innerhalb der Finanzbranche agieren Versicherer im Vergleich zu Banken auf Augenhöhe und richten die Geschäftsmodelle auf Agilität und Resilienz aus. Mit Blick auf andere Branchen und Länder ist der Standort Deutschland hier allerdings kein Vorreiter.

VWheute: Die Corona-Pandemie wird allgemein hin als Digitalisierungstreiber angesehen. Wie ist ihre Einschätzung dazu und welche mittel- bis langfristigen Folgen sehen Sie für den digitalen Wandel in der Branche?

Markus Heyen: Wir sehen in der Cloudifizierung den größten Digitalisierungstreiber der Branche. Das ist eine Entwicklung die letztendlich im März durch COVID-19 einen zusätzlichen Schub bekam, als nahezu alle Unternehmen ins Remote-Office gingen. Hier hatten Versicherer keinerlei Probleme mit der Umstellung, für Remote-Tätigkeiten und Kollaboration ist die Basis in jedem Fall vorhanden.

Mittel- und langfristig wird es insgesamt zu einer intensiveren Nutzung der Cloud kommen – nicht nur in der Versicherungswirtschaft. Nach unseren Schätzungen sind global derzeit 20 Prozent aller Unternehmen in der Cloud, bis 2025 werden es voraussichtlich 80 Prozent sein. Die deutschen Versicherer haben diesen Trend erkannt und treiben ihre Digitalisierungsmaßnahmen in Richtung Cloud voran. In den kommenden Monaten und Jahren wird dieser Trend nochmal an Tempo zulegen.

Versicherer können bis 2025 bei den Themen IT-Infrastruktur und Data Center sowie Incident-Management in der IT 80 Prozent erreichen. Bei Querschnittsfunktionen, wie beispielsweise Finanzbuchhaltung-/ HR, werden die Assekuranzen bei 40-70 Prozent liegen und bei Kernfunktionen der Versicherungen auf einem Level von 30 bis 40 Prozent.

„Mittel- und langfristig wird es insgesamt zu einer intensiveren Nutzung der Cloud kommen – nicht nur in der Versicherungswirtschaft.“

Markus Heyen, Geschäftsführer und Leitung Versicherungen Deutschland bei Accenture

VWheute: Laut einer Studie von ExB reagierten die meisten Versicherungsunternehmen auf die neuen Anforderungen überraschend schnell und agil und sind auch in Zukunft offen für neue Technologien. Wie bewerten Sie diese Aussage?

Markus Heyen: In Zeiten von Corona haben Versicherungen das Gebot der Stunde erkannt und schnell auf die neuen Anforderungen reagiert. Doch es gibt zwei Seiten der Medaille. Agilität und Schnelligkeit gehen auch mit einem gewissen Grad an Resilienz und Widerstandsfähigkeit der Prozesse einher. Sicher ist es möglich, in Notsituationen schnelle Lösungen zu generieren. Wenn diese sich jedoch verstetigen sollen, müssen Prozessketten, IT und Operations verändert werden.

Bei Digitalisierung und Cloud bedeutet das auch einen Wandel in der Art des Arbeitens und der Positionierung dieser Themen im Unternehmen. Hier ist ein Kulturwandel nötig, der agile Methoden und neue Formen der Zusammenarbeit in die Arbeitskultur integriert, sie etabliert und in der Organisation verstetigt.

VWheute: Stichwort IT: Die Versicherer stehen im Ruf, nicht gerade über die modernste IT-Infrastruktur zu verfügen. Wo sehen Sie momentan die größten IT-Baustellen bei Versicherungsunternehmen und IT-Lücken?

Markus Heyen: Begonnen haben die Versicherungen mit der Digitalisierung wie anfangs erwähnt im Frontend. Dort sind moderne IT-Komponenten bereits vorhanden, weil das Bedürfnis am größten war, auf die neuen Kundenansprüche zu reagieren. In Zukunft wird hieran weitergearbeitet und Vorhaben intensiviert, um den Kunden eine noch bessere Customer Experience zu bieten. Die größten Baustellen sehen wir im Backend der Versicherungsunternehmen. Hier ist die Erneuerung von Altsystemen und auch die Modernisierung der Bestandssysteme bislang nur in Teilbereichen im Gange und noch nicht abgeschlossen.

Auch die Sammlung, Aufbereitung und Nutzung von Daten, um Mehrwertdienste für Kunden und Unternehmen zu entwickeln, weist noch Lücken auf bzw. bestehen aktuell nur in Insellösungen. Hier vollzieht sich der Wandel von einer produktzentrierten zu einer kundenzentrierten Arbeitsweise schrittweise. So ist in weiten Teilen die S/4HANA-Transformation noch nicht abgeschlossen, die eine wichtige Grundlage und Voraussetzung für erfolgreiche Datenanalyse und den Einsatz von künstlicher Intelligenz oder Machine Learning in SAP-Systemen und Non-SAP Systemen darstellt.

VWheute: Blicken wir auf das kommende Jahr: Wie wird sich die IT in der Branche aus Ihrer Sicht perspektivisch entwickeln und welche Aufgaben wird sie bzw. muss übernehmen? Und welche Aufgaben gerade angegangen werden?

Markus Heyen: Das Zukunftsthema der Versicherungsbranche ist es, die Entwicklung kundenzentrierter Mehrwertdienste fortzusetzen. Diese sollen über das reine Versicherungsprodukt hinaus gehen und in den Augen der Kunden die Rolle des Versicherers „From Payer to Provider“ verändern. Die Cloud-Adaption sowie der damit einhergehende Wandel der Arbeitskulturen werden dazu einen entscheidenden Beitrag leisten. Wir gehen davon aus, dass Versicherungen künftig mit bis zu drei Cloud-Providern arbeiten werden. Zum Vergleich: global gesehen nutzen Unternehmen im Schnitt bis zu fünf Cloud-Provider.

Damit wird das Management der Cloud zu einer eigenen Aufgabe. Diese umfasst zum Beispiel folgende Themen: die Entwicklung von Testsystemen und IT-Infrastruktur, neue Anforderungen an Security und die Absicherung jedes Endgerätes (als Ergänzung zur Perimeterabsicherung), Fragen der Governance und Verantwortlichkeiten innerhalb des Unternehmens, Skalierung nach Bedarf sowie Migration von Anwendungen aus Altsystemen in die Cloud.

Eine wichtige Entscheidung in diesem Zusammenhang ist, welche Anwendungen in welcher IT-Umgebung liegen und liegen sollen. Dabei sollten Unternehmen auch wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen und Überlegungen zur digitalen Souveränität im Blick behalten.

Die Fragen stellte VWheute-Redakteur Tobias Daniel.

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