Orchestrator oder Schlüsselpartner: Welche Rolle spielen Versicherer in Ökosystemen?

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Orchestrator, Schlüsselpartner oder Teilnehmer von Ökosystemen: Das ist eine zentrale strategische Entscheidung, die Versicherer treffen müssen. Denn immer mehr CEOs geben dem Fokus auf Lebenswelten und ganzheitlichen Angebote eine hohe Priorität, wie auch die aktuelle Studie „Ökosysteme in der Versicherungsindustrie“ von Accenture zeigt.
Über 28 Mrd. Euro spielten deutsche Versicherer im letzten Jahr über die Sparte Kraftfahrzeugversicherung ein. Dieses klassische Versicherungsprodukt ist bei Kunden wie Versicherern gleichermaßen etabliert und wird es auch künftig noch geben. Dabei sieht Mobilität im Alltag oft anders aus. Mit dem Rad zur U-Bahn, weiter zur Arbeit, von dort per Mietwagen zum Kunden und wieder zurück. Auf der Reise von A nach B, egal ob auf dem Weg zu dienstlichen Terminen oder in den Urlaub, möchte sich der Kunde keine Gedanken darum machen, ob er während des Unterwegsseins versichert ist oder nicht.
Wer ein Auto mietet, eine Reise bucht oder einen Gebrauchtwagen kauft, hat heute schon oft die Versicherung mit abgedeckt. Der Kunde ist Teil der Lebenswelt Mobilität, in der der Versicherer nicht mehr unmittelbar in den Vordergrund tritt. Die Versicherung wird vielmehr Teil eines Ökosystems und als Service integriert. Dieser Trend spiegelt sich auch beim erwarteten Umsatz wider: Schon 2025 soll der Umsatz aus Ökosystemen im Geschäft mit Privatkunden von heute drei auf dann zehn Prozent steigen, im Firmenkundensegment von drei auf dann sieben Prozent, so Ergebnisse der Studie.
Pflege und Alltagshilfe, Gesundheit und Fitness sowie Mobilität: Die Top 3 der künftigen Lebenswelten
Mobilität ist neben den Bereichen Pflege und Alltagshilfe sowie Gesundheit und Fitness eine der drei strategisch relevantesten B2C-Lebenswelten der Versicherungsbranche. Der Ansatz der Ökosysteme ist, ganzheitlich über die Themen und Erwartungen in einer bestimmten Bedarfssituation nachzudenken und sich spürbar an den Anliegen des Kunden zu orientieren. So bietet ein Versicherer in Benelux beispielweise älteren Menschen per monatlicher Flatrate eine Art Rundumsorglos-Paket an. Reparaturen in der Wohnung, medizinische Leistungen, Unterstützung bei Einkäufen: Das neue Ökosystem aus verschiedenen Serviceanbietern enthält Versicherungsleistungen, wo nötig, aber auch andere Dienste, die ältere und nicht mehr so mobile Menschen unterstützen.
Auch in Deutschland, wo man im internationalen Vergleich bislang eher zurückhaltend auf ganzheitliche Angebote reagiert hat, zeigt sich laut einer globalen Verbraucherumfrage von Accenture Interesse: Mehr als jeder Dritte kann sich ein Gesundheitspaket vorstellen, das Gesundheits- und Wellnessangebote mit der Krankenversicherung kombiniert, und jeder Vierte entsprechende Services von seinem Versicherer für Heim und Haus.
Orchestrator, Schlüsselpartner oder Teilnehmer im Ökosystem?
Noch schätzen Versicherer die Relevanz von Ökosystemen auf einer Skala von eins (nicht relevant) bis vier (Ökosystem im Kern) noch auf etwa zwei bis drei. Zugleich geben 76 Prozent der Befragten an, dass sich Versicherer künftig vor allem im Privatkundensegment in Ökosysteme integrieren müssen, um an der Kundenschnittstelle relevant zu bleiben und Wachstum zu ermöglichen. Um eine stärkere Rolle in Ökosystemen spielen zu können, müssen Versicherer ihren Part darin klarer definieren. Dabei gibt es drei mögliche Positionen: Orchestratoren sind als Hauptbetreiber verantwortlich für ein Ökosystem sowie die dazugehörige Plattform und legen die Regeln der Partnerschaften fest.
Schlüsselpartner bieten zentrale Services im Gesamtangebot – das macht sie systemrelevant. Als Ökosystem-Teilnehmer fungiert ein Versicherer hingegen, indem er einzelne Produkte oder Services beisteuert, zum Beispiel Teile der Kundenlösung baut oder andere nötige Fähigkeiten einbringt. Jeder Teilnehmer im Ökosystem trägt letztlich zum Kundennutzen und Gewinn bei.
Ökosysteme: Technische Voraussetzungen mit entscheidend
Laut Definition realisieren Plattformen den „Austausch von Informationen, Produkten und Dienstleistungen sowie monetären und nicht-monetären Werten“. Dies geht deutlich über die reinen Zahlungen im Schadenereignis hinaus, die der traditionelle Kern einer Versicherungsleistung sind. Für die neuen Potenziale in Ökosystemen müssen viele Unternehmen zunächst technologisch aufrüsten, etwa omnikanalfähige Plattformen entwickeln, relevante Daten verfügbar machen oder die Fähigkeit schaffen, Produkte und Services zu integrieren oder integrierbar zu machen.
Die Plug- und Play-Fähigkeit fehlt oft noch. Doch ist sie nötig, um etwa Services derart vorbereiten zu können, dass sie vom Orchestrator unkompliziert mit angeboten werden können. Die Voraussetzungen sind gut: Denn Versicherer verfügen über Transaktions- und Personendaten. Diese Informationen zu analysieren, in digitalen Plattformen einzusetzen und auf dieser Basis kundennahe sowie individuelle Angebote zu entwickeln, wird für das Geschäftsmodell der Zukunft immer wichtiger.
Versicherungen: Vom Zahler zum Partner
Schon heute ist auf dem Markt klar zu beobachten: Die Versicherer beginnen umzudenken – auch wenn das neue „Mindset“ im Sinne ganzheitlicher Angebote und Lösungen häufig noch die zentrale Herausforderung ist. Es geht ihnen künftig immer mehr um Services, die bestmöglich eingebunden werden – und nicht ausschließlich um eng umgrenzte Produkte. Ein wichtiges Indiz dafür ist, dass die Mehrheit der Versicherungsmanager in den Chefetagen die wachsende Bedeutung von Ökosystemen für ihr Unternehmen erkannt hat. Während aktuell immerhin mehr als jeder zweite CEO dem Thema eine hohe Priorität beimisst, werden es laut unserer Studie in drei Jahren mehr als 90 Prozent sein. Für Versicherer bieten Ökosysteme die große Chance, sich vom Schadensregulierer und Leistungsbezahler im Hintergrund zu einem spürbaren Servicepartner zu entwickeln, der den Kunden in seinen Alltagsproblemen versteht und unterstützt. Ob im Vordergrund oder im Hintergrund von Ökosystemen, Versicherer können relevanter und spürbarer für ihre Kunden werden als jemals zuvor.
Autor: Markus Zimmermann, Geschäftsführer und Leiter Insurance Strategy bei Accenture in DACH