Evolution statt Revolution: Zehn IT-Trends für die Assekuranz 2020

Quelle: Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Der Übergang zur Plattformökonomie und die Vereinheitlichung der Produktportfolios zählen zu den Top-Prioritäten der Versicherungs­wirtschaft. Neben Klassikern wie Regulatorik, Kostenreduktion und der Erhöhung der Kundenloyalität. Mehr denn je entscheidet die Ausrichtung der IT, wie nachhaltig die Unternehmen die Entwicklungschancen ihrer Märkte nutzen können. 2020 werden zehn Trends das Handeln bestimmen.

Sie reichen vom Dauerbrenner Cloud Computing bis zum Aufsteiger des Jahres Robo Advisory. Über allem jedoch steht der zehnte Trend: der Kulturwandel in den Köpfen der Mitarbeiter. Wenn er gelingt, wird die digitale Transformation ihre Stärken voll ausspielen. Dabei zeigt sich, dass ein evolutionäres, schrittweises Vorgehen deutlich erfolgversprechender ist, als den Wandel im Top-down-Verfahren durchzudrücken.

Will man die bis an die Grundfesten der Geschäftsmodelle reichende Bedeutung der IT-Trends verstehen, so lohnt zunächst ein kurzer Blick nach Fernost. Dort hat der chinesische Versicherungskonzern Ping An die vergangene Dekade genutzt, um sein komplettes Bestandsgeschäft auf cloud-basierte Plattformen zu migrieren. Jede dieser Plattformen fördert die Entwicklung von Ökosystemen, die weit über das bisherige Kerngeschäft hinausgehen und damit völlig neue Wertschöpfungsmöglichkeiten bieten. So etwa im Verkehrssektor. Ausgangspunkt dort war die Handelsplattform AutoHome, auf der rund ein Drittel der chinesischen Autoverkäufe ab­gewickelt werden.

2016 übernahm Ping An die Hälfte der Anteile an AutoHome. Seither treibt der Konzern den Ausbau der Plattform voran. Teilweise schlägt man dabei ungewöhnliche Wege ein. Unter anderem wurde die Peer-to-Peer-Vergabeplattform Lufax in das Autoportal ein­gebunden. Deren wichtigstes Asset ist eine Scoring-Lösung, die Informa­tionen zur Kreditwürdigkeit der Kaufinteressenten liefert. Ping An teilt diese Informationen mit anderen Kapitalgebern, darunter mehr als 200 Banken. Damit erhält die Plattform eigenen Angaben zufolge Daten zu etwa 700 Millionen Nachfragern. Parallel zum Reichweitengewinn wächst die Aussagekraft der Kreditprüfung.

Trend 1: Cloud Computing

Ohne die anhaltend hohe Innovationskraft des Cloud Computing wäre die schrittweise Ausweitung des Kerngeschäfts, wie sie Ping An in einer Viel­zahl von sektorspezifischen Ökosystemen betreibt, undenkbar. Dabei ist die kapazitativ ausreichende und punktgenaue Bereitstellung einer ständig steigenden Rechenleistung keineswegs der einzige Motor dieser Entwick­lung. Mindestens genauso wichtig ist die Tatsache, dass viele der inno­vativsten Methoden der Datenanalyse zuerst in der Public Cloud verfügbar sind. Zu den wesentlichsten Zielen dabei zählen das Feintuning der Datenmodelle und die bessere Monetarisierung von Bestandsdaten.

Ungeachtet dessen werden in den meisten Versicherungsunternehmen der DACH-Region die sogenannten „Systems of Record“ auch weiterhin nicht in die Public Cloud ausgelagert. Die unterstützende Legacy IT weist eine solche Fülle an Altsystemen unterschiedlicher Entwicklungsstände auf, dass eine Cloud-Migration mit unkalkulierbaren Risiken oder hohen Kosten verbunden wäre. Demgegenüber läuft eine Reihe von Neuentwicklungen, welche die Brücke zum operativen Geschäft schlagen, bereits ganz überwiegend in der Public Cloud. In dieser Gemengelage stellen hybride Infrastrukturen sicher, dass sich die beiden Systemwelten analog zu den übergeordneten Business-Zielen managen und weiterentwickeln lassen. Dabei bietet die Hybrid Cloud auch die Plattform für die Rationalisierung der Applikationslandschaft. Zusätzlich zur Vereinheitlichung der bestehen­den Produkte und Tarife geht es dabei auch um die rasche Umsetzung neuer Marktideen und die zügige Integration der passenden externen Partner. Unterstützung kommt nun auch aus dem Bereich der Regulatorik. Sowohl die Institute zusammen mit ihren Dienstleistern als auch die Aufsicht haben massiv Know-how dazu aufgebaut, wie sich die Cloud im Spannungsfeld von Datenschutz und Informationssicherheit sicher nutzen lässt. Ein zentraler Meilenstein war die Herausgabe der versicherungs­aufsichtlichen Anforderungen an die IT (VAIT). Seither erkennt man, dass bei den Versicherern die Zurückhaltung gegenüber Cloud-Lösungen wesentlich geringer geworden ist.

Trend 2: Open API

Offene webbasierte Programmierschnittstellen (engl. Open Application Programming Interfaces, Open APIs) werden zum Mittel der Wahl, um innovative Software-Dienste zeitnah und kostengünstig in die Legacy IT der Versicherungen einzubinden. Open APIs schaffen eine agile Alternative zu herkömmlichen Integrationsprojekten, bei denen die Architektur der Bestandssysteme projektspezifisch aufgebohrt wird, was ein komplexes Unterfangen mit oft ungewissem Ausgang ist. Demgegenüber bieten Open APIs einen standardisierten Programm-Code, der die Interaktion eines neu entwickelten Software-Dienstes mit den proprietären Datenbank- und Soft­waresystemen des Versicherers präzise regelt. Auf diese Weise bekom­men Plattformbetreiber ein pragmatisches Mittel an die Hand, um das Wissen und die Fähigkeiten von Freelancern und Insurtechs so zu nutzen, dass ihr Ökosystem flexibel wachsen kann. Das derzeit größte Angebot an versicherungsspezifischen Programmierschnittstellen stellt die Open Insurance Initiative bereit. Darüber hinaus bieten auch große Versicherer entsprechende Angebote, so zum Beispiel auch die Allianz, um ihre Entwickler-Community entsprechend zu erweitern.

Trend 3: Identitätsplattformen für das Kunden-Onboarding

Damit die sich ausdifferenzierenden Angebote der Plattformökonomie von der Nachfrageseite angenommen werden, ist es essenziell, den Nutzer­zugriff so einfach wie möglich zu machen. Zentralisierte Login-Dienste – ein Markt, der bereits seit Jahren von Facebook und Google dominiert wird – bilden hier einen ersten grundlegenden Schritt. Was nun jedoch gerade auch aus Sicht der Finanzwirtschaft zu einem echten Muss wird, sind Lösungen, die es dem Kunden erlauben, seine verifizierte digitale Identität zentral zu verwalten und den Cloud-Diensten seines Vertrauens mit ein­fachsten Mitteln zur Verfügung zu stellen. Gute Voraussetzungen, diesen gerade erst entstehenden Markt zu erschließen, bringt die 2018 gegründete Plattform verimi mit, an der neben Daimler, Deutsche Bank, Lufthansa und Telekom auch die Allianz beteiligt ist. In Deutschland konkurriert Verimi mit der ebenfalls 2018 ins Rennen gegangenen Plattform netID, hinter der neben United Internet die Medienkonzerne ProSiebenSat.1 Media und RTL stehen. Als Pionier auf dem europäischen Markt gilt der skandinavische Dienstleister Signicat, der bereits seit 2007 Cloud-Lösungen für das Kunden-Onboarding bietet.

Top-Trend 4: Internet der Dinge

Das Internet der Dinge (Internet of Things, IoT) beherrscht die Trendlisten bereits seit einer ganzen Reihe von Jahren. Gleichwohl erfährt die web­basierte Vernetzung von physischen Gegenständen und virtuellen Sys­temen in diesem Jahr gleich aus mehreren Gründen weiteren Auftrieb. An erster Stelle ist dabei der Rollout des neuen Mobilfunkstandards 5G zu nennen. Sei es in der Fläche oder in den Campusnetzen großer Firmen­standorte. Beide Entwicklungen bewirken, dass sich eine Vielzahl neuer Geräte in die IT-Architektur der Unternehmen einbinden lässt. Gleichzeitig wird IoT den Trend zum Edge Computing verstärken. Edge Computing analysiert die Daten dort, wo sie entstehen und stellt sie bei Bedarf wei­teren Systemen in der Nähe des Edge-Bereiches zur Verfügung. Für die Versicherungsbranche ergeben sich daraus immer neue Einsatz­möglichkeiten. So zum Beispiel Kfz-Versicherungen mit Telematik-Tarifen, Smart-Home-Schutzbriefe (Zusammenarbeit von ERGO und Deutscher Telekom) oder Krankenversicherungen, die das persönliche Verhalten analysieren und zusammen mit künstlicher Intelligenz Verhaltensänderun­gen unterstützen.

Trend 5: Blockchain-basierte Prozessautomatisierung

Blockchain-Technologien haben inzwischen hohe Marktreife. Dienstleister wie zum Beispiel Amazon Web Services bieten bereits spezielle Plattfor­men an, auf denen die zum Bau einer Blockchain erforderlichen Services so zur Verfügung gestellt werden, dass sie sich ohne tieferes Entwickler­wissen nutzen lassen. Auch wenn die Mehrheit der Versicherer die Ent­wicklung des Themas bislang eher aus der Perspektive des Beobachters verfolgt hat, so investieren nun mehr und mehr Unternehmen in den Aufbau von Blockchain-Expertise und starten erste Pilotprojekte. Insbesondere in den Bereichen Prämienzahlung und Schadensbearbeitung haben Versicherungsunternehmen einen großen Bedarf, Blockchain-Lösungen einzusetzen.

Zudem erlaubt Blockchain das Design von parametrischen Versicherungen, bei denen sich die Auszahlung der Deckungssumme an dem Ausmaß orientiert, mit dem ein zuvor vereinbarter Schwellenwert – wie etwa die Niederschlagsmenge auf einer Agrarfläche – unter- oder überschritten wird. Hier schlägt Blockchain die Brücke zum Top-Trend IoT, indem die kryptografische Verkettung der Datensätze die Integrität der übermittelten Sensordaten sicherstellt.

Trend 6: Next Gen Cyber Security

Die wachsenden digitalen Ökosysteme heben das Thema IT-Sicherheit noch einmal auf eine ganz andere Ebene. Es geht nicht länger nur darum, die eigenen Infrastrukturen, Datenbanken und Applikationslandschaften vor Angriffen zu schützen. Stattdessen rücken die Anforderungen einer voll integrierten Security in den Vordergrund, die sämtliche Partnersysteme mit in den Blick nimmt. Der Auf- und kontinuierliche Ausbau eines zentralen Security Operations Center (SOC) bilden die Voraussetzung, um den neuen Rahmenbedingungen gerecht zu werden. Technologisch gesehen stützt sich das SOC auf ein Security Incident and Event Management (SIEM), das Informationen aus Sensoren und Überwachungsprotokollen erfasst, Unternehmensschwachstellen identifiziert und beobachtet, sowie extern gesammelte Bedrohungsinformationen in die Arbeit einbezieht.

Führende SIEM-Lösungen bieten KI-basierte Funktionalitäten, die Datenkorrelationen und die Erkennung von Mustern ermöglichen, sodass Anomalien früher sichtbar werden. Auf diese Weise verschiebt sich das Security-Paradigma vom Ansatz des „Entdeckens und Bekämpfens“ hin zum „Vorhersagen und Vorbeugen“. Erste Versicherer erkennen den Markt und haben nicht nur auf der Technologieseite reagiert, sondern auch entsprechende Versicherungsprodukte zur Absicherung von Cyber-Risiken gebaut. So zum Beispiel die Allianz oder Zurich.

Trend 7: Robotic Process Automation (RPA)

2019 ist RPA in der Breite des Markts angekommen. Auch in der Versicherungswirtschaft. Nahezu alle größeren Unternehmen nutzen RPA, um transaktionale Massenprozesse zu automatisieren, bei denen die prozessunterstützenden IT-Systeme nicht ausreichend vernetzt sind. Dies betrifft insbesondere die Bereiche Einkauf, Finanzen, Buchhaltung und Personalwesen. Mit zunehmenden kognitiven und natürlichsprachlichen Fähigkeiten eignet sich Robotic Process Automation aber auch zu intelli­genteren Formen der Prozessautomatisierung. Damit adressiert RPA nun auch die eigentliche Wertschöpfung, wie etwa in den Bereichen Under­writing und Kundeninteraktion sowie Schadensregulierung und Forderungs­management.

Trend 8: Künstliche Intelligenz

Komplexe Geschäftsprozesse, vielfältige Kundenanfragen und große Mengen unterschiedlichster Daten machen die Versicherungswirtschaft zu einem natürlichen Anwendungsfall für Künstliche Intelligenz (KI) und kognitive Technologien. Die starke Regulierung durch die Marktaufsicht und die eher konservative Risikokultur in den Chefetagen haben jedoch dazu beigetragen, dass der KI-Rollout erst in jüngster Zeit stärker in Gang kommt. Andererseits sorgt der vergleichsweise späte Markteintritt dafür, dass die Versicherer in zahlreichen KI-Bereichen auf zunehmend reifere Technologien zugreifen können.

KI und Automatisierung ermöglichen die schnellere und effizientere Abwicklung von Versicherungsfällen, bei denen es nicht um hohe Beträge geht. Beispielsweise lassen sich Fotos von Unfallschäden deutlich schneller und effizienter mit KI als durch Menschen auswerten. Doch auch bei komplexeren Schadensfällen im Bereich der gewerblichen Versicherungen kann der KI-Einsatz Entscheidungen beschleunigen und den Schadenservice optimieren. Lebens- oder Krankenversicherungsgesellschaften nutzen Künstliche Intelligenz bereits beim Formulieren von Verträgen und beim Prüfen von Ansprüchen.

Zudem profitieren sie von der immer weiterreichenden Verknüpfung neuronaler Netzwerke, die mehrdimensionale Intelligenzen hervorbringt, mit denen sich ein permanent größer werdendes Spektrum von Anwendungsfeldern adressieren lässt. So etwa im Bereich der Advanced Analytics, die Inhalte (teil-)autonom untersuchen kann und damit in erheblichem Umfang über die traditionellen Verfahren der Business Intelligence (BI) hinausgeht.

Trend 9: Robo Advisory

Eines der dynamischsten Anwendungsfelder der Künstlichen Intelligenz ist die Robo Advisory. Hier öffnen algorithmen-gestützte Analysesysteme völlig neue Vertriebs- und Kommunikationskanäle. Versicherer bekommen ein starkes Mittel, um ihre Omnichannel-Strategie auszubauen und die Nachfrager tatsächlich dort abzuholen, wo sie sich vorzugsweise aufhalten. Für einen stetig wachsenden Teil der Kunden und Interessenten ist dies das Smartphone. Gerade der Finanzwirtschaft kommt nun entgegen, dass erste KI-Systeme lernen, synthetische personalisierte Informationen aus Applikationen abzuleiten, ohne dazu personenbezogene Daten verarbeiten zu müssen.

Die sich daraus ergebende Datenverarbeitung respektiert die Privatsphäre der Kunden, ist DSGVO-konform und erfüllt die Vorgaben der Aufsicht. Nachdem Robo Advisors zunächst vor allem in der Anlage­beratung und Vermögensverwaltung eingesetzt wurden, beginnen sich nun auch Versicherer für sie zu interessieren. Ein gutes Beispiel für diesen in Europa noch sehr jungen Markt ist das Schweizer Startup vlot, das sich auf Beratungsleistungen im Umfeld von Lebensversicherungen konzentriert.

Trend 10: Digitaler Kulturwandel

Für sämtliche IT-Trends gilt: Ihr Mehrwert für das Versicherungsgeschäft bemisst sich daran, wie weitreichend die Mitarbeiter den Wandel anneh­men, der mit neuen Technologien einhergeht. Dies umfasst zwei Dimen­sionen: Einerseits sind Teile des Versicherungsgeschäftes sehr beständig, so dass der Wandel und die Erkenntnis zu seiner Notwendigkeit über Organisational-Change-Management-Programme unterstützt werden müssen. Schließlich entspricht die Kultur einer klassischen Versicherung nicht der eines Start-ups. Andererseits erfordert die Einführung neuer Technologien den Kompetenzaufbau auf Mitarbeiterseite.

Sei es in der Anwendung der Technologien. Sei es bei der Übernahme von alternativen Aufgaben, wenn gewohnte Tätigkeiten ersetzt werden. Im Rahmen dieses Transformationsprozesses erfährt das Konzept des Agile Enterprise einen grundlegenden Wandel: Während viele Unternehmen Agilität und DevOps zunächst nur als Modell begriffen, um ihre gesamte Organisation in Form eines konzertierten Kraftakts in die neue Welt zu überführen, wird inzwischen ein stärker evolutionärer Ansatz erkennbar. Dieser konzentriert die Transformationsarbeit zunächst einmal nur auf all jene Instanzen, die auch tatsächlich einen aktuellen Bedarf haben.

Autor: Michael Kimmig, ISG Information Services Group

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