Risiko Langlebigkeit: Werden wir bald 200 Jahre alt?

Quelle: Bild von analogicus auf Pixabay

Dieses Szenario, das der südafrikanische Lebensversicherer Sanlam entworfen hat, ist nicht vollkommen aus der Luft gegriffen. In einer Werbekampagne mit dem Titel „The 200 Year Old“ nimmt Sanlam unter anderem auf den britischen Bioinformatiker und Biogerontologen Aubrey de Grey Bezug, der das Altern wie eine Krankheit auf ungünstige biochemische Prozesse zurückführt.

Diese könnten durch gezielte Interventionen gestoppt oder sogar umgekehrt werden. Im Szenario von Sanlam konnte de Grey das Altern besiegen. Im Jahr 2218 feiert der erste Mensch seinen 200. Geburtstag. Zugegeben, de Greys Ansatz ist radikal. Aber er steht nicht alleine da mit der Ansicht, dass für das menschliche Altern kein grundsätzliches Limit in Sicht ist.

Dem gegenüber steht die These, dass die Grenze des Alterns schon mehr oder weniger erreicht ist und dass für die Zukunft keine nennenswerte Verbesserung der Lebenserwartung mehr zu erwarten ist. Seit einigen Jahren ist dieser zweite Standpunkt wieder einmal präsenter, auch in der Versicherungsbranche. Wir sehen uns zwischen diesen beiden relativ extremen Standpunkten.

Ein Limit beim Altern, so es überhaupt existiert, ist aus unserer Sicht nach wie vor nicht erreicht. Auch wenn es wiederholt Abschnitte von einigen Jahren mit deutlich unterdurchschnittlichen Verbesserungen gab, ist die Entwicklung der Lebenserwartung letztendlich immer zum langfristigen Trend eines Anstiegs zurückgekehrt. Und dieser Trend ist ungebrochen.

In den zurückliegenden Jahrzehnten war eine eindeutige Entwicklung der Sterblichkeit und der Lebenserwartung zu beobachten. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verbesserten sich die Bevölkerungs-Sterberaten kontinuierlich, noch dazu im langjährigen Mittel mit ansteigender Trend-Geschwindigkeit. So hat sich die Sterberate 60- oder 80-jähriger Männer in Deutschland seit 1960 mehr als halbiert.

Viele der Faktoren, die diese Dynamik angetrieben haben, wären damals kaum absehbar gewesen: die Erfolge im Kampf gegen Krebs, der Rückgang der Raucherquoten und die erheblichen Fortschritte in der Behandlung und Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Tunnelblick auf Großbritannien und die USA irreführend

Aber worauf basiert die eingangs geschilderte Ansicht, das Limit beim Altern sei erreicht? Seit etwa 2012 war ein Einbruch der jährlichen Sterblichkeitsverbesserungen in Großbritannien und den USA zu beobachten. Beide Länder dominieren die internationale wissenschaftliche Diskussion, Forschung und Entwicklung bei Sterblichkeitstrends, sowohl im akademischen als auch im aktuariellen Bereich.

Dadurch wird die globale wissenschaftliche Diskussion nicht nur technisch, sondern auch inhaltlich von den britischen und amerikanischen Entwicklungen dominiert – auch wenn diese stark von landesspezifischen Umständen geprägt sind. Für Großbritannien etwa zeigen diverse akademische Untersuchungen, dass schon ein vergleichsweise gradueller Rückgang in der Finanzierung von Gesundheitssystemen sowie bei Pflege- und Rentenzuschüssen für besonders finanzschwache Rentner zu einer höheren Sterblichkeit geführt hat. In den USA werden die massiven sozioökonomischen Verwerfungen sowie die Änderung in der Regulierung von Opiaten mit der negativen Entwicklung der Sterblichkeit in Verbindung gebracht.

Ein Blick in die Daten zeigt, dass der Tunnelblick auf Großbritannien und die USA in die Irre führt: In Frankreich und Deutschland sind Sterblichkeitsverbesserungen in den letzten fünf Jahren zwar weniger stark gewesen als in der herausragend guten ersten Dekade des Jahrhunderts – aber eben auch weit entfernt vom Einbruch in Großbritannien oder den USA. In Dänemark ist der Trend im Mittel weiterhin eher ansteigend.

In Japan gab es um 2010 ein scheinbares Ende des Trends – inzwischen ist er wieder da, und durchaus substanziell. Selbst für Großbritannien deuten jüngste Zahlen aus der „Continuous Mortality Investigation“ des Institute and Faculty of Actuaries (der britischen Aktuarvereinigung) an, dass es nach dem propagierten Ende des Trends plötzlich seit Mitte 2018 wieder einen solchen geben könnte.

Wie nachhaltig dies ist, wird die Zukunft zeigen. Die Behauptung, die Sterblichkeit könne sich nicht weiter verbessern, hat eine gewisse Tradition, wie zwei Beispiele aus dem Artikel „Broken Limits of Life Expectancy“ von Jim Oeppen und James W. Vaupel (Science, 2002) zeigen. Louis Dublin war im Jahr 1928 einer der Ersten, der mithilfe US-amerikanischer Sterbetafeln darlegte, wie stark sich die Sterblichkeit in jedem Alter verbessern könne. Er schloss so auf ein maximal erreichbares Alter von 64,75 Jahren, gleichermaßen für Frauen und Männer. Ein aktuelleres Beispiel für das Vorhaben, ein Limit für das menschliche Alter zu identifizieren, folgte 1990.

Die Forscher des Department of Medicine der University of Chicago prognostizierten unter möglichst realistischen Annahmen, dass ein damals 50-jähriger Mensch im Idealfall noch auf 35 zusätzliche Jahre hoffen könnte. Heute wissen wir, dass sich auch hier die reale Dynamik geweigert hat, diese Obergrenzen zu respektieren. Schon sechs Jahre später, im Jahr 1996, überwand die Lebenserwartung japanischer Frauen diesen Wert (inzwischen gilt das auch für so verschiedene Länder wie Schweden, Italien und Kanada).

Die Daten werden dünn

Egal ob Versicherte oder Gesamtbevölkerung: In hohen Altern werden die Daten dünn. Selbst nationale Bevölkerungsstatistiken, wie sie der HMD zugrunde liegen, geraten hier an ihre Grenzen. Technische Analysen für diese Altersgruppen erfordern gezielt qualitätskontrollierte Datenbanken. Sofern es Studien mit solchen vertrauenswerten Daten gibt, zeigen diese, dass es selbst in der Altersgruppe der über 100 Jahre alten Menschen noch einen substanziellen Verbesserungstrend in der Bevölkerungssterblichkeit gibt.

Angesichts der Tatsache, dass viele Menschen immer gesünder alt werden und das Gesundheitssystem immer besser mit der wachsenden Anzahl alter Menschen umzugehen lernt, ist dieser Trend nicht verwunderlich. Für die Zukunft können wir eher noch eine Verstärkung dieser Dynamik erwarten – und das selbst dann, wenn sensationelle Innovationen rar bleiben. Letztere sind ohnehin unsicher, sind sie doch abhängig von politischen Entscheidungen und einem innovationsfreundlichen Umfeld. Wesentliche politische Umwälzungen waren schon immer ein wichtiger Einflussfaktor für die Sterblichkeits-Dynamik.

So haben Spanien nach dem Ende des Franco-Regimes und Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung jeweils viele Jahre mit durchgängig sehr starken Sterblichkeitsverbesserungen erlebt. Auch zukünftig werden politische Entscheidungen die Entwicklung der Sterblichkeit beeinflussen. Zunehmend haben jedoch auch vergleichsweise graduellere Entscheidungen der Politik prägenden Einfluss. In den USA wäre hier die bereits angesprochene breitere Freigabe von Opiaten zu nennen oder in Großbritannien die Einsparungen in Gesundheit, Pflege und den Sozialkassen. Beides wirkt sich negativ auf die Sterblichkeit aus. Weitere Beispiele für eine positive Wirkung auf die Sterblichkeit wären Besteuerung und Werbeverbote für Tabak oder die Einführung der Anschnallpflicht im Auto.

Eine Frage, die sich die Politik, aber auch die Gesellschaft insgesamt, an diesem Punkt stellen muss, ist: In welchem Ausmaß sind alternde Gesellschaften bereit, auf die Alterung mit Veränderungen zu reagieren? Die Frage nach der Lebensarbeitszeit ist ein vieldiskutiertes Beispiel.

Ein anderes ist der Bedarf an Pflege und Unterstützung, der in einer immer älteren Gesellschaft sicher zunehmen würde, und die Frage, wie dieser Bedarf gedeckt werden kann. Auch Umwälzungen am Arbeitsmarkt spielen eine Rolle. Mit der Entwicklung hin zu einer Industrie 4.0 wird einerseits eine gestiegene Arbeitsplatz-Unsicherheit in Verbindung gebracht, andererseits potentiell zunehmend weniger ungesunde Arbeitsplätze. So könnten Arbeitnehmer gesünder alt werden. So oder so bleibt festzustellen, dass die Gesellschaft als Ganzes und alle Einzelnen eine Menge Einfluss darauf haben, wie sich die Lebenserwartung weiterentwickelt.

Ob der erste Mensch, der 200 Jahre alt wird, schon lebt, weiß wohl niemand. Aubrey de Greys Ideen kann man guten Gewissens als radikal bezeichnen. Die Frage nach ihrer Umsetzbarkeit sollten sowohl wir Versicherer als auch unsere Kunden aufmerksam beobachten. Aber selbst ohne einen Glauben an 200 Kerzen auf der Geburtstagstorte kann man dem Trend der zunehmenden Lebenserwartung gute Aussichten für die Zukunft bescheinigen.

Autoren: Sven Wiesinger und Mathias Schröder, beide Aktuare bei der Hannover Rück

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in der aktuellen Ausgabe der Versicherungswirtschaft.

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