„Nachhaltigkeit hat sich aus den Schlagzeilen verabschiedet – aber nicht aus den Köpfen“

Motiv vom Weltwirtschaftsforum in Davos 2023, Nachhaltigkeit groß im Fokus. Bildquelle: World Economic Forum/ Mattias Nutt/ Flickr/ https://creativecommons.orglicensesby-nc-sa2.0legalcode

Zwar hat sich der öffentliche Fokus zuletzt durch geopolitische Krisen, wirtschaftliche Unsicherheit und politische Umbrüche verschoben. Aber das Interesse an nachhaltigem Wirtschaften bleibt hoch, schreiben die Wavestone-Expertinnen Thanh Ngoc Beck und Eva Baumgart bei VWheute. Sie glauben, dass Versicherer beim Kunden damit weiterhin wertvolle Punkte sammeln. „Wer ESG-Aspekte strategisch integriert, kann sich klar differenzieren.“

Eine internationale Wavestone-Studie mit über 7.000 Datenpunkten aus sechs Ländern (Deutschland, Schweiz, UK, Frankreich, USA, Kanada) zeigt: Kund:innen messen der sozialen Dimension von ESG die höchste Relevanz bei. In fünf von sechs Märkten liegt „Social“ vorn – besonders in der Schweiz, dem Vereinigten Königreich und Frankreich. Deutschland bildet hingegen das Schlusslicht. Nur in den USA steht Umweltschutz an erster Stelle.

Soziale Nachhaltigkeit im Fokus – aber nicht überall gleich stark

Ein Blick auf die internationalen Ergebnisse zeigt: Die hohe Bedeutung sozialer Nachhaltigkeit ist zwar ein länderübergreifender Trend, aber in Intensität und Priorisierung unterschiedlich ausgeprägt. So nimmt die Schweiz mit 77 Prozent den Spitzenplatz ein – ein Ergebnis, das sich unter anderem durch das stark ausgeprägte, historisch verankerte Gemeinwohlverständnis des Landes erklären lässt. Auch das Vereinigte Königreich weist mit 75 Prozent eine hohe Relevanzbewertung der sozialen Dimension auf. Seit Jahren nehmen sozialpolitische Themen hier einen breiten Raum in der öffentlichen Debatte ein, etwa Fragen der Gleichstellung, Diversität und sozialen Teilhabe. Dies hat das Bewusstsein für soziale Themen geschärft. Auch in Frankreich zeigt sich mit 71 Prozent ein hohes Maß an Relevanz des Sozialen, was eng verknüpft sein dürfte mit der traditionell starken Verankerung sozialer Werte in Politik und Gesellschaft, unter anderem durch ausgeprägte gewerkschaftliche Strukturen und eine lange sozialpolitische Tradition.

Deutschland hingegen liegt mit 62 Prozent vergleichsweise deutlich darunter. Zusammenhängen könnte dieser Wert mit einer insgesamt sachlicheren Nachhaltigkeitsdebatte, einer stärkeren Betonung regulatorischer Aspekte und einer derzeit politisch fragmentierten Nachhaltigkeitsagenda. Zudem zeigt sich in der Studie, dass viele deutsche Kund:innen ESG zwar grundsätzlich wichtig finden, aber konkrete Informationen zu Nachhaltigkeit und Nachhaltigkeitsmaßnahmen, etwa im Beratungsgespräch, seltener explizit einfordern. Hier besteht für Versicherer in Deutschland also noch Potenzial, stärker auf eigene Initiativen und (sozial) nachhaltige Produkte hinzuweisen – und dadurch Differenzierungspotenziale besser zu nutzen.

Thanh Ngoc Beck (l.) und Eva Baumgart, Wavestone. Bildquelle: Unternehmen

Nachhaltigkeit ist Familiensache

Neben regionalen Unterschieden zeigt die Studie auch: Die Erwartungen bestimmter Kundengruppen an Nachhaltigkeit sind besonders ausgeprägt – und verdienen besondere Aufmerksamkeit. Denn Kundenerwartungen bestmöglich zu bedienen ist entscheidend, um neue Kund:innen zu gewinnen und bestehende zu halten. Länderübergreifend zeigt sich, dass Frauen ESG-Dimensionen mehr Bedeutung zumessen als Männer. Ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis betrifft die Zielgruppe der Kund:innen mit Kindern unter 18 Jahren. Diese Gruppe legt deutlich mehr Wert auf nachhaltige und soziale Unternehmenspraktiken als Kund:innen ohne Kinder. Im internationalen Vergleich ist Nachhaltigkeit für diese Zielgruppe in allen Ländern wichtiger als für andere Kundengruppen – besonders ausgeprägt ist dies in den USA, Deutschland und der Schweiz.

Eltern zeigen also ein ausgeprägtes Bewusstsein für langfristige Entwicklungen, die das Leben ihrer Kinder direkt oder indirekt beeinflussen könnten. Versicherungsunternehmen sind daher gut beraten, sowohl geschlechterspezifische Unterschiede als auch die besonderen Bedürfnisse von Familien in ihrer Kommunikation gezielt anzusprechen und darauf einzugehen. Beispielsweise könnten zielgruppengerechte Kampagnen zeigen, wie Versicherer Familien im Alltag konkret unterstützen – etwa bei Gesundheit, Kinderbetreuung oder der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Interessant könnte zudem die Entwicklung maßgeschneiderter Versicherungsprodukte speziell für Frauen sein. Ergänzt um Services wie persönliche Beratung durch Expertinnen oder familienorientierte Finanzseminare entsteht ein Angebot, das an den Lebensrealitäten der Zielgruppen anknüpft.

Zahlungsbereitschaft und Zukunftspotenzial

Nicht nur würden solche zielgruppengenau angepasste Angebote die Loyalität der Kund:innen erhöhen, für Versicherer könnten sich solche Angebote buchstäblich auszahlen. Denn auch das zeigt die Studie: Die Bereitschaft, einen Aufpreis für nachhaltige Produkte zu zahlen, ist da. Besonders hoch ist sie in der Schweiz, in Frankreich und den USA. In diesen Ländern liegt der Median der zusätzlichen Zahlungsbereitschaft durchgängig bei zehn Prozent – und zwar für Komposit-, Lebens- und Krankenversicherungen. In UK, Deutschland und Kanada liegt die zusätzliche Zahlungsbereitschaft zwischen drei und sechs Prozent.

Und auch unabhängig von der Zahlungsbereitschaft profitieren Versicherer von einem klaren, nachhaltigen Profil und zugeschnittenen Produkten. Laut Wavestone-Studie wollen künftig viele Kund:innen ESG-Kriterien in ihre Versicherungsentscheidungen einbeziehen – allen voran die unter 35-Jährigen. In allen Ländern außer dem Vereinigten Königreich liegt die Zustimmungsrate in dieser Altersgruppe bei über 70 Prozent. Besonders hoch ist sie in der Schweiz (84 % bei den 25- bis 34-Jährigen, 76 % bei den 18- bis 24-Jährigen). Auch in Deutschland zeigt sich ein hohes Interesse: 74 Prozent der 18- bis 24-Jährigen und 71 Prozent der 25- bis 34-Jährigen wollen künftig ESG-Aspekte bei ihrer Versicherungswahl berücksichtigen. Wer ESG-Themen also differenziert adressiert, gezielt kommuniziert und in Produktstrategien integriert, schafft nicht nur Vertrauen, sondern auch echte Marktvorteile – heute wie morgen.

Autorinnen: Thanh Ngoc Beck und Eva Baumgart, beide bei Wavestone