Analyse: Was bedeuten Ökosysteme in der Praxis der Versicherungswirtschaft?

Oliver Hechler. Quelle: BSI

Die Zahl der Daten, die Verbraucher hinterlassen, aber auch jene der vernetzten Geräte und Anwendungen nimmt in unserer digitalisierten Welt immer weiter zu. Es wird prognostiziert, dass bis 2025 bereits über 50 Milliarden solcher Geräte im Umlauf sein werden. Damit wird auch die Zahl der Daten- und Informationsquellen in den kommenden Jahren nochmals signifikant ansteigen – und das ist auch für die Versicherungsbranche ein wichtiger Trend. Denn für sie kann die steigende Anzahl an Daten über das Verhalten und die Präferenzen von (potenziellen) Kunden, aber auch zu (vernetzten) Geräten, die zum Teil versichert sind, Gold wert sein. Von Oliver Hechler, Geschäftsführer der BSI Business Systems Integration Deutschland.

Durch die Kombination von Big Data mit modernen Analysetechnologien können Versicherer das Kunden- und Nutzungsverhalten noch besser analysieren, Marketingstrategien zielgerichteter aufstellen und individualisierte Produkte anbieten, die einen echten Bedarf treffen. Auf der anderen Seite steigt dadurch aber auch die Erwartungshaltung der Kunden an den Versicherer: Sie fordern eine Omnichannel-Präsenz sowie einfache, innovative und bedarfsgerechte Produkte, Lösungen, Services und Hilfestellungen in Echtzeit.

Versicherer müssen zu Service-Partnern werden

Um diesem Bedürfnis nach Individualität und Flexibilität gerecht zu werden und auch in Zukunft auf dem Markt bestehen zu können, müssen die Versicherungsunternehmen jetzt den Wandel von der klassischen Produktfokussierung zur geforderten Kundenzentrierung erfolgreich meistern. Dazu zählt auch, dass sich die Versicherer als eine Art „Allround-Anlaufstelle“ positionieren und auch versicherungsfremde Leistungen in ihr Produktportfolio integrieren müssen. So können sie sich als wichtiger Lebensbegleiter für ihre Kunden etablieren. Die Versicherer erhalten dadurch – und dank des damit verbundenen Datenaustauschs – eine ganzheitlichere Sicht auf ihre Kunden. So treten sie mit Kundinnen nicht mehr „nur“ in Schadensfällen in Kontakt – eine Chance für beide Seiten. Doch um solche übergreifenden Servicemodelle bereitstellen und das Dienstleistungs-Portfolio diversifizieren zu können, sind Ökosysteme unverzichtbar.

Ökosysteme elementar für langfristigen Unternehmenserfolg

Bislang steht man in Deutschland der Plattform-Ökonomie jedoch vielerorts noch skeptisch gegenüber. Laut einer Untersuchung von Bitkom (2020) lassen vier von zehn der befragten Unternehmen Plattformen aktuell links liegen – und das, obwohl die Vorteile von Plattformen durchaus gesehen werden: Ökosysteme bieten die Möglichkeit, das eigene Angebot über komplementäre Services anderer Anbieter quasi exponentiell zu erweitern und so die Kundenbindung zu stärken. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch Marktplätze, die zuletzt eine Art „Revival“ erlebt haben: Diese ermöglichen es den Kunden unter anderem, ihre Daten selbstständig zu pflegen und freizugeben („Own Your Data“). Dadurch erreichen die Unternehmen nicht nur eine höhere Datenqualität, sondern auch eine höhere Einwilligungsrate für Kundeninteraktionen.

Ein solches erfolgreiches Ökosystem aufzubauen ist jedoch nicht einfach, sondern erfordert viel Kreativität und strategisches Denken – und vor allem ein „Eintauchen“ in den Alltag und die Lebensrealität der Kunden. Wie kann ich meinen Kundinnen einen echten Mehrwert bieten? Was brauchen sie in konkreten Lebenssituationen, die Berührungspunkte mit dem eigenen Geschäftsmodell aufweisen? Und welche Lebenssituationen könnten das sein? Nur so können maßgeschneiderte Produkte und Services entstehen, die wir heute noch nicht kennen.

Retail zeigt wie es funktioniert – Versicherungsunternehmen ziehen nach

Eine solche Plattformökonomie ist in vielen Wirtschaftsbereichen bereits gang und gäbe und längst in unser aller Alltag integriert: Amazon, Apple und Co. haben schon vor langer Zeit vorgemacht, wie sich erfolgreich ein geschlossenes Ökosystem rund um die eigenen Produkte und Technologien aufbauen lässt. Der Ressourcenaufwand, der beim Aufbau eines solchen Ökosystems erforderlich ist, ist aktuell allerdings noch häufig ein großes Hindernis für viele Unternehmen. Dabei gibt es mittlerweile beispielsweise die Möglichkeit, einfach an bereits bestehende Plattformen anzudocken oder sich bei der Entwicklung eigener Plattformen Unterstützung von erfahrenen Softwarepartnern zu holen. Da sich die Daten und die daraus ablesbaren Szenarien jedoch schnell ändern können, ist so manches Modell gewiss auch nicht für die Ewigkeit gebaut oder bedarf agiler Anpassungen. Das bedeutet für Unternehmen, die gewohnt sind, in strategischen Planungszyklen zu denken, einen massiven Wandel. Dennoch scheint mittlerweile auch die Versicherungswirtschaft ihre Zweifel und Hemmnisse langsam, aber sicher zu überwinden und sich verstärkt in diesem Bereich zu engagieren: So fördert und etabliert zum Beispiel die Free Insurance Data Initiative FRIDA offene Schnittstellen-Standards im digitalen Versicherungswesen und zu verbundenen Geschäftsbereichen. Damit will man die Grundlage für die Entstehung von digitalen Ökosystemen im Sinne von „Open Insurance“ schaffen. Erst vor Kurzem wurde auch bekannt, dass HUK-COBURG, LVM und HDI aktuell an einer eigenen digitalen Plattform arbeiten, auf der ihre Kunden künftig alle möglichen Dienstleistungen rund ums Auto erledigen können.

Fazit

Der Aufbau von Ökosystemen ist in der Versicherungsbranche unabdingbar – denn die Erwartungshaltung der Kunden und der Wettbewerb durch agile InsurTechs verstärkt die Nachfrage nach einfachen und bedarfsgerechten, auch versicherungsfremden Services in Echtzeit und über alle Geräte hinweg.  Um Kunden also langfristig binden und für das eigene Unternehmen begeistern zu können, müssen sich auch die Versicherer zu „Full-Service-Anbietern“ wandeln, die zu einer wachsenden Zahl von Alltagssituationen Hilfestellungen und Produkte im Portfolio bereithalten. Warum beispielsweise nicht zusätzlich zu einer Haftpflichtversicherung Putz- oder Renovationsdienste anbieten? Zwar erfordert der Aufbau und die Entwicklung solcher Plattformen oder Ökosysteme in Eigenregie umfangreiche Ressourcen, jedoch gibt es mittlerweile zahlreiche Unterstützungsmöglichkeiten. So haben auch kleinere und mittelständische Unternehmen – in der Versicherungsbranche und ganz allgemein – die Möglichkeit, sich erfolgreich für eine digitale Zukunft aufzustellen, in der das eigene Geschäftsmodell möglicherweise ganz anders aussieht als heute.

Zum Autor: Oliver Hechler ist Geschäftsführer der BSI Business Systems Integration Deutschland GmbH und Community Manager für Versicherungen. Er liebt München und Kundenerlebnisse, die so herausragend sind, dass sie leidenschaftlich weiterempfohlen werden. Das Werkzeug dafür liefert die BSI Customer Suite. www.bsi-software.com

Ein Kommentar

  • Hans-Holger Jörgens

    Bevor neue Ökosysteme gebaut werden, sollten wir auch die bestehenden Standards nicht vergessen. Seit 2006 die Versicherungswirtschaft nahezu flächendeckend auf BiPRO-Services. Dabei sind der Antragsprozess, die Vertragsdaten und Dokumente standardisiert zwischen Versicherer und Vertrieben/Maklern übertragbar. Viele Projekte implementieren derzeit weitere BiPRO-Services und dieses Ökosystem kann bei Open Insurance eine wichtige Rolle spielen, ohne alles neu bauen zu müssen. Das sollte in der Betrachtung nicht vergessen werden.

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