Experteninterview: „Digitalisierung und Standardisierung werden in der technischen Versicherung weiter voranschreiten“

Die Autoren Stephan Schmitz (links) und Andreas Knittel (rechts). Quelle: privat

Mit Profis arbeiten ist speziell in der technischen Versicherung wichtig. Die Autoren Stephan Schmitz und Andreas Knittel haben im Verlag Versicherungswirtschaft ein Buch zum Thema veröffentlicht. Im umfangreichen Interview sprechen sie über die Relevanz des Underwriting, warum Technik „nicht mehr so ausgereift“ und der GDV ein „Entflechter“ ist. Warum im Gewerbesegment die Zauberwörter der Zukunft „Standardisierung“ und „Vorkonfektionierung von Produkten“ lauten, erklären die Experten im Gespräch. Ein Interview von und für Profis.

VWheute: Ihr Buch hat so viele Aspekte. Fangen wir daher direkt groß an: Welche Trends sehen Sie in der technischen Versicherung: sowohl im Gewerbe- wie im Industriebereich?

Stephan Schmitz: Das Kriterium der Nachhaltigkeit findet mit Nachdruck Einzug in die Tarifbücher und Zeichnungsrichtlinien. Die Versicherer justieren ihr Verhalten im Neu- und Bestandsgeschäft. In diesem Kontext: Die Versicherung der erneuerbaren Energien bleibt als Trend wichtig. Wachstum findet insbesondere im Ausland statt, in Deutschland kann man derzeit eher eine Seitwärtsbewegung beobachten. Der Umgang mit „Silent-Cyber“ bleibt spannend. Bislang eher als Schreck-Szenario, die großen Schäden bleiben noch aus. Sollte sich dies ändern, werden Erst- und Rückversicherer die Bedingungen zügig anpassen.

Andreas Knittel: Im Gewerbesegment wird die Digitalisierung und Standardisierung auch in den technischen Versicherungen weiter voranschreiten. Versicherungsprodukte können für den Endkunden und Vermittler noch effizienter abgeschlossen und verarbeitet werden. Eine besondere Bedeutung kommt hier den sogenannten Vergleichern zu, bei denen immer mehr Deckungserweiterungen eingeschlossen sind und deren Summen nach Bedarf erhöht werden können.  Die Versicherer verfolgen noch konsequenter das Ziel, die Kosten weiter zu senken, da es gerade in Deutschland, wie Stephan Schmitz beschrieben hat, eher zu einem Verdrängungswettbewerb kommen wird

Um diesem Ziel näherzukommen, werden modular aufgebaute Produkte – bei denen durch vorkonfektionierte Bausteine Deckungen individuell zusammengestellt werden können – zunehmen. Um dem technischen Wandel Rechnung zu tragen, wird neben dem Breitengeschäft wie der Elektronik- oder Maschinenversicherung auch standardisierte Spezialversicherungslösungen, wie der Versicherung von Drohnen oder der Deckung von E-Ladestationen eine besondere Bedeutung zukommen.

Vertrieblich wird die Anbindung an Vergleicher und Maklerpools immer wichtiger werden – ebenso wie das Finanzierungsgeschäft der Banken mit gleichzeitiger Absicherung der technischen Geräte. Besonders wichtig: Der technologische Wandel erfordert ein Spezial-Know-how bei den Versicherern, um die Risiken fachgerecht beurteilen zu können.

VWheute: Was sind momentan die größten Gefahren, Cyber-Attacken?

Andreas Knittel: Als eine der größten Gefahren sehe ich den Eingriff durch Schadsoftware in die Steuerung von Produktionsmaschinen und der damit verbundenen Manipulation und Zerstörung der Maschinen, um einzelne Firmen zu schädigen oder gar ganze Wirtschaftszweige zu treffen.  Weiterhin werden große Kumulereignisse, wie wir sie derzeit in den Überschwemmungsgebieten in der Eifel oder Bayern sehen, zunehmen und die TV-Versicherer vor besondere Herausforderungen setzen. 

Stephan Schmitz: Auch ich sehe hier – nicht nur aus aktuellem Anlass – die Elementargefahren als permanente Gefahrenquelle.  Industriespionage, Auftrags-Hacking und andere Cyberangriffe sind für mich große Unbekannte mit dem Potenzial für enorme TV-Schäden, wenn sich diese gegen die Produktionsnetzwerke richten.

VWheute: Die technische Entwicklung rast, die Geräte werden leistungsstärker aber oft auch anfälliger. Was bedeutet das für die Kunden wie Versicherer?

Stephan Schmitz: Gerade bei anfälligen Engpassmaschinen ohne Redundanz muss der Kunde einen Notfall-Plan in der Schublade haben und Ersatzteile vorhalten. Zusicherungen für zeitnahe Ersatzteil- oder Leihmaschinen-Lieferung bei seinen Lieferanten sind ebenfalls wichtig. Der Versicherer ist gut beraten, dies beim Underwriting abzuklopfen und beratend Hilfestellung zu geben.

Natürlich helfen Maschinensach- und BU-Deckung, es bleibt jedoch für den Kunden ein Restrisiko, egal wie gut die Deckung ausgestattet ist. Natürlich gilt, dass die jeweilige Abhängigkeit des Umsatzes in der TV-BU ihre Entsprechung finden muss.

Die Maschinenbaubranche ist nicht von den Weltmärkten entkoppelt. Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Komponenten wie z.B. aktuell bei den Halbleitern kann zu verlängerten Wartezeiten bei der Ersatzbeschaffung für unsere Kunden führen. In dem Fall wird sich der VN nervös fragen, ob er die Haftzeit seiner BU ausreichend dimensioniert hat. Auch qualifizierte Montage- und Reparaturkapazitäten der Fachfirmen können zum Engpass-Risiko vollkommen außerhalb der Risikosphäre unseres VN werden. Schadenfaktor Nummer eins ist und bleibt jedoch der Mensch, meist in Form des Bedienpersonals. Komplexer werdende Maschinen verstärken dies noch. Auch unter dem – wahrlich nicht neuen – Slogan „Sichern vor Versichern“ helfen regelmäßige Schulung und Verantwortungsbewusstsein bei dem Bediener an der Maschine.

Andreas Knittel: Zunächst tragen die Versicherer nicht das Entwicklungsrisiko für die Industrie. Daher sind Prototypen oder Erstlingsproduktionen meist auch nicht Gegenstand der Deckung. Gleichwohl besteht ein höheres Risiko für Kollateralschäden durch defekte Bauteile.  Der Absicherungsbedarf der Geräte oder Maschinen durch eine TV-Deckung wird dadurch steigen. Gleichzeitig wird die Schadenhäufigkeit zunehmen, da die Technik nicht mehr so ausgereift ist.

VWheute: Was würden Sie einem Unternehmen raten, das nicht das Budget für einen Komplettschutz seiner Anlagen hat, worauf sollte der Fokus gelegt werden?

Andreas Knittel: Fakt ist, dass die meisten finanzierten Maschinen und elektronischen Geräte nach den allgemeinen Geschäftsbedingungen der Finanzierungsgesellschaften eine Absicherung vorschreiben. In der Versicherung fahrbarer Maschinen beispielsweise ist dann mindestens eine Teildeckung obligatorisch.

Einen besonderen Wert sollte man bei einer umfassenden TV-Deckung auf die Engpassmaschinen bzw. elektronischen Geräte legen. Hierbei ist der Nutzen einer TV-Deckung besonders hoch.  Gewöhnlich werden bei vielen Versicherern unterschiedliche Produktvarianten wie eine „Basis-“ oder eine „Exklusivdeckung“ angeboten. Da bei der erweiterten Produktlinie viele nicht zwingend notwendigen Deckungserweiterungen oder nicht in der Höhe benötigten Summen vorgesehen sind, kann bei der Basisdeckung der ein oder andere Euro eingespart werden. Dies gilt es aber im Einzelfall abzuwägen.

Stephan Schmitz: Wie beim Lotto: Ausschließlich die richtigen Zahlen tippen, dann klappt es auch mit kleinem Budget!  Aber ernsthaft: Bei eingeschränktem Budget muss eine besonders intensive (und schonungslose) Prüfung potenzieller Schadenursachen und deren möglichen Auswirkungen vorgenommen werden. Im zweiten Schritt muss ermittelt werden, welches Schadenszenario oder welche beschädigte Maschine tatsächlich zu einer Existenzbedrohung führen kann. Für die so ermittelten Risiken muss dann die Rundum-Deckung her. Andere Bereiche sollten dann zumindest mit eingeschränkter Deckung (Beispiel: Ausschluss innerer Betriebsschäden, erhöhte SB etc.) versehen werden. Andreas und ich haben hierzu einen zweiteiligen Artikel im „Vermittler“ veröffentlicht.

VWheute: Es gibt viele Absicherungsarten bei der technischen Versicherung, sie sprechen von einem „Dschungel“. Wird das so bleiben oder gibt es andere Lösungen?

Stephan Schmitz: Den Begriff des Dschungels haben wir bewusst gewählt: Die Sparten sind vom Grundbedingungswerk und möglichen Ein- und Ausschlüssen zunächst unübersichtlich und eine spartenübergreifende Systematik ist nicht zu erkennen. Hier setzt der GDV mit seinen neuen Bedingungen, die auf dem Markt noch nicht flächendeckend umgesetzt sind, an. Jedoch: Dies greift in die bestehenden Deckungen ein und verändert die bekannten Strukturen. Von herausragender Bedeutung ist hier sicherlich die Abkehr vom Listenpreis und das Abstellen auf den Kaufpreis. Wer sich hier nicht gut auskennt, wird Probleme bekommen, einen Bestandsvertrag auf die neue Bedingungsstruktur umzustellen.

Bereits bei der Neufassung der Bauleistungsversicherung (aus den jahrzehntelang bestehenden Bedingungen ABN und ABU wird das zusammengefasste ABBL) ist zu beobachten, wie schwer sich Versicherer tun, diese neue Logik in die hauseigenen Systemlandschaften zu übersetzen. Es stellt sich zum Beispiel die Frage, wie man fehlerfrei einen bestehenden Rahmenvertrag auf Grundlage der ABU in die neuen Bedingungen überführt. Es deutet sich ein hoher manueller Aufwand an.

Man erkennt: Es passiert gerade sehr viel, die Sparten der technischen Versicherung sind sehr lebendig und dynamisch. Neue Herausforderungen wie Silent Cyber aber auch alte Bekannte wie Hochwasser gepaart mit hoher technologischer Innovationsgeschwindigkeit sorgen für ein spannendes Arbeitsfeld.

Zum Beispiel ist es nicht nur für Anbieter von Bauleistung- und Montagedeckungen spannend, inwiefern sich der 3-D-Betondruck durchsetzen wird. Auch müssen alte Annahmen permanent hinterfragt werden. Die Elektronikversicherung hielt lange Zeit Mobiltelefone (Handys) für unversicherbar, später dann die Drohnen. Heute wissen wir: von der Aufnahme in den Versicherungsschutz geht die Welt nicht unter, im Gegenteil macht sich dies im historischen Verlauf der Schadenquoten überhaupt nicht bemerkbar.

Andreas Knittel: Meiner Meinung nach heißen im Gewerbesegment die Zauberwörter der Zukunft „Standardisierung“ und „Vorkonfektionierung von Produkten“. Hierbei werden die für den Versicherungsschutz wesentlichen Deckungen und Summen in teils verschiedenen Produktlinien vorbelegt. Ein modularer Aufbau der Versicherungsbedingungen führt zu mehr Verständlichkeit. Summenerhöhungen oder besondere Deckungseinschlüsse können wie in einem Baukastenprinzip bei Bedarf ganz einfach angepasst werden.

Auch die Zusammenlegung der Bauleistungsbedingungen, von den ABN und ABU zu den ABBL – wie es Stephan Schmitz erwähnt hat – führt zur Komplexitätsreduzierung.  Ich denke, wir werden noch einige Vereinfachungen erleben. Ziel ist es, dem Kunden leicht verständliche Produkte anzubieten, was aufgrund der immanenten Komplexität nicht immer einfach ist.

VWheute: Skizzieren Sie bitte die Zukunft der Sparte?

Andreas Knittel: Wie bereits erwähnt, wird das Thema Nachhaltigkeit für die gesamte Versicherungswirtschaft und insbesondere für die TV-Versicherer eine zentrale Rolle spielen. Insbesondere die Produktentwicklungsbereiche der Versicherer werden sich hieran orientieren müssen.

Aber auch der Bedarf einer Absicherung wird durch den Einsatz neuartiger Technik steigen. Für den Versicherer ist das keine einfache Sache, müssen doch die neuen Techniken risikotechnisch beurteilt und anschließend ein Beitrag kalkuliert werden. Ebenfalls sehe ich durch den bereits eingesetzten und vermutlich noch weiter forcierten Bauboom eine wachsende Nachfrage nach Absicherung von Projekten. Auch stellt sich die Herausforderung der Versicherer durch neue Bautechnologien, wie das erst kürzlich zu 100 Prozent  aus dem 3-D-Drucker erstellte Haus.  Baukombideckungen, also die Absicherung der Haftpflichtrisiken und der Bauleistungsversicherung, werden bei Großprojekten an Bedeutung zunehmen. Einfluss auf die Preisgestaltung werden hierbei auch die zunehmenden Großschadenereignisse durch die Klimaveränderung haben und bei den Versicherern hoffentlich auch zum Umdenken führen. 

Eine wesentliche Herausforderung insbesondere für die TV-Versicherer wird zudem sein, wie das Know-how der Mitarbeiter gehalten und vor allem auch ausgebaut werden kann. Denn eines ist klar: Durch den technologischen Wandel werden viele neuartige Risiken beurteilt werden müssen, will der Versicherer weiter ertragreiches Geschäft generieren. 

Stephan Schmitz: Tatsächlich wachsen die Sparten der technischen Versicherung ausnahmslos und konstant. Das ist auch nicht verwunderlich und es gibt keine Anzeichen, dass sich dies zeitnah ändern könnte. Zu beobachten sind Grenzüberschreitungen bei Sach- und TV-Deckungen, und ich spreche nicht ausschließlich von Multiline-Produkten.

Von Maklern werden gern in die Sachdeckungen TV-Komponenten hineingeschrieben, einige TV-Versicherer bieten eine Feuerdeckung für stationäre Maschinen. Je mehr die Grenzen verschwimmen, desto intensiver sollte man die Besonderheiten kennen. Wann zum Beispiel beginnt der Versicherungsschutz? Mit Anlieferung beim VN oder erst mit Betriebsbereitschaft? Wie ist die Entschädigung geregelt – ist Zeit- oder Neuwert vereinbart?

Spannend wird der Einfluss von „Big Data“: Wenn Versicherer Modelle wie BIM (Building Information Modeling) nutzen können, wäre dies nicht nur für die Bauleistungsversicherung ein hervorragendes Informationsmittel.

Denkbar ist auch eine Echtzeit-Auskunft über den Zustand des versicherten Maschinenparks. VN und VR werden über integrierte und mit dem Internet verbundene Mess-Sensoren über den Zustand von Verschleißteilen oder einen niedrigen Ölstand informiert – oder eine unterbliebene Wartung.

Die Fragen stellte VWheute-Redakteur Maximilian Volz.