Wahn – Gedanken im November von Meinhard Miegel

Wahn ist Kopfsache. Bild von John Hain auf Pixabay

„Der schrecklichste der Schrecken“ ist, Friedrich Schiller zufolge, „der Mensch in seinem Wahn“. Wahn: „eine inhaltliche Denkstörung, die als Symptom von Psychosen auftritt und durch subjektive Gewissheit der Betroffenen, Unkorrigierbarkeit durch widerlegende Argumente und meist durch den Widerspruch zum objektiven Sachverhalt gekennzeichnet ist.“ Von Meinhard Miegel.

Von Wahn Besessene hat es offenbar zu allen Zeiten gegeben. Schon antike Quellen berichten von Menschen besessen von Größen-, Hexen- oder Teufelswahn. Aufklärung und moderne Wissenschaft haben hieran wenig geändert. Geändert hat sich allenfalls der Gegenstand des Wahns. An die Stelle von Größen-, Hexen- oder Teufelswahn traten Jugend- und Schönheits-, Fortschritts- und Wohlstands- und insbesondere Allmachts- und Glückswahn. Alles ist möglich, alles ist machbar. Die Dinge mögen sein, wie sie wollen – die Menschen finden immer eine Lösung und zu guter Letzt werden alle glücklich sein. Für Dein Glück benutze diese Hautcreme oder wähle jene Partei. Enttäuschungen werden verdrängt.

Gegen „widerlegende Argumente“ sind solche Wahnvorstellungen immun. Gleichgültig wie offenkundig es ist, dass Bäume nicht in den Himmel wachsen – der Wahn hält an: Mobilitäts-, Geschwindigkeits-, Wachstumswahn. Die Welt ächzt und stöhnt darunter. Aber die vom Wahn Besessenen haben kein Einsehen, mag ihr Handeln noch so sehr im „Widerspruch zum objektiven Sachverhalt“ stehen.

Da beklagen Scharen von Menschen, denen es wirtschaftlich besser geht als allen Generationen vor ihnen, die beste Bildungschancen haben, die sich nicht zuletzt dank umfangreicher Fürsorge guter Gesundheit erfreuen und die das Privileg genießen, in freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen zu leben, sie seien missverstanden, zurückgesetzt und von allen Seiten bedroht. Überall wähnen sie finstere Mächte, die ihnen nicht nur Hab und Gut sondern auch noch ihre Sprache, Werte und Kultur streitig machen. Das ist die Wirklichkeit, derer sie „subjektiv gewiss“ sind.

Eine Gesellschaft, in der solche Gewissheiten wuchern, verliert ihre Fähigkeit, vernünftig zu denken und zu handeln. In solchen Gesellschaften scheint es logisch, einer alles in allem gut funktionierenden Gemeinschaft von Staaten den Rücken zu kehren, um an eine imperiale Geschichte anzuknüpfen, die vor mehr als hundert Jahren krachend zu Ende gegangen ist, scheint es logisch, durch konsequente Abschottung die Kultur eines Landes und Kontinents zu erhalten, von deren einheimischer Bevölkerung seit langem sehr viel mehr Menschen sterben als geboren werden, scheint es logisch, einen christlich-humanistischen Wertekanon hochzuhalten, indem man Rettungssuchende auf hoher See ertrinken lässt.

In solchen vernunftfernen, wahnhaften Gesellschaften prallen Ansprüche, Sichtweisen und Haltungen unversöhnlich aufeinander, bis diese tief gespalten und unregierbar geworden sind. Sie sind Opfer „inhaltlicher Denkstörungen, die als Symptom von Psychosen auftreten“. Vieles wäre sonst nicht erklärbar.

Die Bevölkerungen, namentlich wirtschaftlich hoch entwickelter Länder, haben sich in Wahnvorstellungen darüber verstiegen, was geht und was nicht geht. So fordern sie lautstark die ständige Erhöhung nicht nur staatlicher Leistungen, sondern auch ihrer individuellen Einkommen, obwohl ihre Volkswirtschaften längst außerhalb irdischer Tragfähigkeitsgrenzen agieren. Das aber ficht die meisten nicht an. Hauptsache mehr, auch wenn dieses Mehr nur ein Trugbild ist. Mit wirtschaftlich Bedürftigen zu teilen, geht hingegen gar nicht.

Zu den gesellschaftlich unverzichtbaren Aufgaben gehört, Wahn zu benennen und ihm entschieden entgegenzutreten. Es ist nicht alles machbar weder ewige Jugend noch Schönheit, weder immerwährender Fortschritt noch immerwährendes Wachstum und am wenigsten Allmacht und Glück. Oder vielleicht doch Glück. Vorausgesetzt dieses Glück wird nicht in der Welt des Wahns, sondern in der realen Welt gesucht.

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