Heinz Ohnmacht über die Säulen der Versicherung

Heinz Ohnmacht. Quelle: BGV

Als ich vor mehr als 35 Jahren in die Versicherungswirtschaft eintrat, als Trainee beim Badischen Gemeinde Versicherungs-Verband (BGV), lernte ich auch die gleichnamige Zeitschrift Versicherungswirtschaft kennen. Allerdings nur peripher, man hatte nur einzelne Exemplare abonniert, und die Reihenfolge der Leserschaft richtete sich nach deren Bedeutung im Unternehmen. Und da kamen Auszubildende oder Trainees natürlich nicht vor oder nur ganz zuletzt. Ein Gastbeitrag von Heinz Ohnmacht.

Aber jeder, der auf sich hielt, wollte das Organ der Assekuranz studieren. In diese Zeit fiel auch meine Bekanntschaft mit den Fundamenten und Funktionen des Versicherungswesens.

Der Zufall ist berechenbar

Einer Banalität kommt die Aussage gleich, dass eine Versicherung sich nicht im Gegenständlichen manifestiert, sondern sozusagen unsichtbar ist, was allerdings große Bedeutung für ihre Akzeptanz hat. Aber eine Versicherung ist eben anders als die meisten Menschen denken. Im Vergleich mit anderen Wirtschaftsgütern weist sie eine Reihe von Besonderheiten auf, die von großer Bedeutung jedoch in der Öffentlichkeit so gut wie unbekannt ist. Bei der Betrachtung dieser „Besonderheiten“ stößt man auf Phänomene, die ebenso paradox wie real und unbezweifelbar sind. „Vorfahren“ einer Versicherung gab es zwar schon im Altertum und Mittelalter, das „moderne“ Versicherungswesen aber beruht auf Erkenntnissen, deren überraschende Quintessenz darin besteht, dass der Zufall berechenbar ist.

Der Vater dieser Erkenntnisse der „mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie“ war der schon zu seiner Zeit berühmte Philosoph, Mathematiker und Physiker Blaise Pascal (1623–1662). Die grundlegende Erkenntnis der Wahrscheinlichkeitstheorie für das Versicherungswesen ist das „Gesetz der großen Zahlen“. Allgemein formuliert besagt es, dass bei statistischen Massenbeobachtungen der Zufall eine umso geringere Rolle spielt, je größer die beobachtete Masse ist. Dies aber bedeutet, dass bestimmte Ereignisse, die den Einzelnen als einen vom blinden Zufall geführten Schicksalsschlag treffen, ihrer Häufigkeit nach voraussagbar werden, wenn es sich um eine große Zahl von Risiken handelt. Die voraussagbare Zahl der in einem bestimmten Zeitraum eintretenden „Ereignisse“ (Schadenfälle) wird umso genauer, je größer die der Berechnung zugrunde liegende Anzahl von Risiken ist.

Der US-amerikanische Mathematiker Warren Weaver (1894–1978) hat dazu Beispiele gesammelt und erklärt: „Eine der erstaunlichsten und wichtigsten Eigenschaften der Wahrscheinlichkeitstheorie ist, dass sie die Tatsache zu erklären vermag, dass Ereignisse, die im Einzelnen sprunghaft und unvorhersehbar sind, ein sehr stabiles Durchschnittsverhalten zeigen, wenn sie in großen Mengen betrachtet werden“ (Warren Weaver: „Die Glücksgöttin – Der Zufall und die Gesetze der Wahrscheinlichkeit“, 1964).

Versicherung beruht funktional auch auf dem „Prinzip der Gegenseitigkeit“. So stimmt die häufig getroffene Aussage, eine Versicherungsgesellschaft „produziere“ Sicherheit, ähnlich einer Produktherstellung, insofern nicht, als kein Unternehmen allein Sicherheit „herstellen“ kann. Nur die faktische Gegenseitigkeitsbeziehung der Versicherungsnehmer ermöglicht dem Versicherer die Deckung versicherter (Massen-)Risiken im Schadensfall. Versicherer initiieren, organisieren, transformieren und garantieren die angebotene Sicherheit, aber sie können sie nicht von vorneherein selbst und allein wie eine Ware produzieren. In diesem Sinne ist Gegenseitigkeit ein konstruktives Merkmal und damit eine Säule im Versicherungsgeschäft.

Alle Frühformen einer Versicherung entwickelten sich auf der Basis der Gegenseitigkeit, der gegenseitigen Hilfe in Notfällen, wobei der genossenschaftliche Selbsthilfe-Gedanke in den alten Gemeinschaften eine wichtige Rolle spielte. Der Gegenseitigkeitscharakter der Versicherungsbeziehungen führt dazu, dass im Schadenfalle gewissermaßen „alle für einen“ einstehen. Daraus folgt, dass jeder Versuch einer ungerechtfertigten Vorteilnahme eines Versicherten nicht nur den Versicherer als solchen, sondern stets auch die Versichertengemeinschaft trifft. Deshalb beinhaltet Gegenseitigkeit auch das hehre Streben nach Gerechtigkeit und Gleichbehandlung.

Das Bild von den Säulen der Assekuranz verleitet mich am Ende zu dem Wunsch – und damit schließt sich der Kreis –, dass unsere Zeitschrift selbst mehr und mehr eine Säule der deutschen Versicherungswirtschaft bildet. Mit der Neuaufstellung und Neuausrichtung der jüngsten Zeit hat sie das Zeug dazu. Nicht nur, weil jetzt jeder sich zeitnah informieren kann, vom Azubi bis zum Vorstandsvorsitzenden – durch das Angebot unternehmensweiter Lizenzen für digitale Kommunikation etwa –, sondern weil das Journal in der Lage ist, Fragen zu stellen und Antworten zu geben, darzustellen und zu erklären, zu recherchieren und zu berichten, aufzudecken und klarzustellen, sodass Transparenz entsteht. Damit ist aber auch die Voraussetzung geschaffen, dass die Versicherungswirtschaft unserer Branche eine wichtige Stimme geben kann.

Autor: Heinz Ohnmacht, ehemaliger Vorstandsvorsitzender des BGV

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