Norbert Rollinger im Sommerinterview: „Die Pandemie hat den Druck auf die Branche erhöht, sich zu wandeln“

Quelle: ARTIS-PHOTOGRAPHIE ULI DECK

Corona hat die Versicherer ordentlich durchgerüttelt. Dennoch habe die Branche „das Corona-Jahr insgesamt gut überstanden. Das Geschäftsmodell Versicherung funktioniert grundsätzlich gut, das hat sich auch in der Pandemie gezeigt“, betont Norbert Rollinger. Im VWheute-Sommerinterview skizziert der R+V-Chef den digitalen Handlungsbedarf und die Erwartungen der Versicherungswirtschaft an die künftige Bundesregierung.

VWheute: Die Pandemie hält uns nun seit mehr als einem Jahr in Atem. Wie hat sich die Branche in dieser Zeit geschlagen? Und wie sieht die Bilanz für 2020 aus?

Norbert Rollinger: Wir haben das Corona-Jahr insgesamt gut überstanden. Das Geschäftsmodell Versicherung funktioniert grundsätzlich gut, das hat sich auch in der Pandemie gezeigt. Die Versicherungswirtschaft kann ihre wichtige gesellschaftliche Aufgabe, das private und wirtschaftliche Leben abzusichern, weiterhin voll erfüllen. Im Zuge von Corona haben wir aber auch die Grenzen der Versicherbarkeit erfahren. Eine Pandemie ist rein privatwirtschaftlich nicht zu versichern, weil sie unkalkulierbar und unbezahlbar ist. Das hat uns die Diskussion um die Betriebsschließungsversicherung deutlich vor Augen geführt. Diese Diskussion ist allerdings auch zulasten der Branche gegangen. Da haben wir nicht immer ein gutes Bild abgegeben. Insgesamt würde ich aber sagen, steht in der Bilanz für 2020 für die Branche ein ordentliches Ergebnis.

VWheute: Marktbeobachter werten in Corona einen digitalen Brandbeschleuniger: Wie bewerten Sie diese Aussage und welche Auswirkungen wird dies für die Versicherer haben?

Norbert Rollinger: Die Pandemie hat den Druck auf die Branche erhöht, sich zu wandeln. Wir haben es schon seit Jahren mit gravierenden Veränderungen zu tun: der Wettbewerb wird auch durch neue Player schärfer, die Kunden verlangen einen Service und ein Erlebnis wie sie es inzwischen von Unternehmen wie Amazon gewohnt sind, und die Zinsen sind nun schon seit Jahren niedrig. Wir müssen schneller, flexibler, digitaler und kundenorientierter werden.

Corona hat diese Trends definitiv beschleunigt und uns gezwungen, schneller zu handeln, insbesondere beim Thema Digitalisierung. Dabei müssen wir aber zwei Dinge unterscheiden: Das eine ist die Digitalisierung der Arbeit. Die ist uns hervorragend geglückt. Wir haben im Frühjahr 2020 innerhalb kürzester Zeit 90 Prozent unserer Mitarbeiter ins Homeoffice geschickt. Seitdem arbeiten wir digital zusammen und es klappt ausgezeichnet. Der Außendienst nutzte zudem Videoberatung und eine sehr schnell entwickelte digitale Signatur. 

Aber bei der Digitalisierung unserer Geschäftsprozesse haben wir noch viel zu tun. So hapert es zum Teil noch an durchgängig digitalen Prozessen, verschiedene Sparten arbeiten mit verschiedenen Systemen. Heute braucht es aber eine übergreifende Sicht auf den Kunden über alle Kanäle hinweg. Das ist ein Paradigmenwechsel. Wir sind dabei, unsere Strukturen konsequent aus Kundensicht zu erneuern, aber das dauert natürlich. Neben neuen Anforderungen an die IT geht mit der Transformation, die wir gerade erleben, auch ein wichtiger und notwendiger Kulturwandel einher. Denn klar ist: Die Erneuerung ist unerlässlich in einer Welt, in der der von Amazon und Co. verwöhnte Kunde gewohnt ist, dass sein Anliegen überall und rund um die Uhr auf Knopfdruck befriedigt wird.  

VWheute: Werfen wir einen kurzen Blick in die Zeit nach Corona: Wie wird die Pandemie die Branche insgesamt verändern und welche langfristigen Folgen sehen Sie speziell für die R+V?

Norbert Rollinger: Die Transformation unserer Branche hat bereits vor einigen Jahren begonnen. Aber die Welt nach der Pandemie wird eine andere sein. Neben der bereits angesprochenen Digitalisierung betrifft dies besonders auch das Thema Zusammenarbeit und die Flexibilisierung von Arbeit. Wir waren über viele Jahre erfolgsverwöhnt und rückblickend vielleicht nicht mutig genug, schon früher eingespielte Strukturen zu erneuern.

Durch Corona arbeiten wir jetzt umso entschlossener an einem neuen Modell für die Zukunft, das die Arbeit deutlich flexibilisieren wird. Eine erste wichtige Erfahrung aus der Corona-Zeit steht schon fest: Viele Gespräche lassen sich sehr gut über Videokonferenzen führen, aber der persönliche Austausch bleibt unverzichtbar. Deswegen entwickeln wir gerade ein neues hybrides Arbeitsmodell für die Zeit nach Corona. Alle Erfahrungen, die wir in der Pandemie gesammelt haben, fließen hier ein. Das bedeutet einen großen Change-Prozess für das gesamte Unternehmen – auch für das Thema Führung.

Ich gehe davon aus, dass wir den digitalen und mentalen Schub aus der Corona-Krise mitnehmen werden, um die Versicherungsbranche nachhaltig zu transformieren.

VWheute: Im September steht die Bundestagswahl an: Womit rechnen Sie im Falle einer grünen Kanzlerin Annalena Baerbock und welche generellen Erwartungen haben Sie an eine neue Bundesregierung in der kommenden Legislaturperiode?

Norbert Rollinger: Wichtige Themen, denen sich die künftige Bundesregierung annehmen muss, sind für uns vor allem: Nachhaltigkeit, generationengerechte Altersversorgung und eine gute konjunkturelle Entwicklung. Hier muss die Regierung stabile Rahmenbedingungen schaffen.

Ich möchte nicht über die künftige Bundeskanzlerin oder den künftigen Bundeskanzler spekulieren. Wir werden uns gemeinsam mit dem GDV jeder neuen Bundesregierung als konstruktiver Gesprächspartner anbieten, um unsere Expertise zu den wichtigen Themen einzubringen. Die Aufgaben bleiben die gleichen – egal welcher Couleur der Wahlsieger angehört. Das Thema Nachhaltigkeit und Klimaschutz zum Beispiel ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die wir für sehr wichtig erachten – genau wie Frau Baerbock, aber auch wie andere Kandidaten. 

Generell sind wir überzeugt von den Mechanismen der sozialen Marktwirtschaft. Das heißt für uns: Der Staat setzt Leitplanken und gewährleistet eine effektive und effiziente Aufsicht. Er garantiert eine gesunde Balance zwischen Regulatorik und Wettbewerb. Das erwarten wir von jeder neuen Regierung.

Die Fragen stellte VWheute-Redakteur Tobias Daniel.

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