SVV-Direktor Helbling im Interview: „Eine Pandemie kann die Grenzen der Versicherbarkeit überschreiten“

Thomas Helbling, Direktor Schweizerischer Versicherungsverband, Quelle: SVV

Die Schweiz genießt mit Global Playern wie Zurich, Swiss Re oder Swiss Life in der internationalen Versicherungsszene ein hohes Ansehen. Die Branche leistet rund 50 Prozent an die Bruttowertschöpfung des Schweizer Finanzplatzes und 4,6 Prozent an die Wertschöpfung der gesamten Schweizer Volkswirtschaft. Dass Corona – und die kritische Debatte um die Pandemieversicherung – daran etwas ändert, glaubt Thomas Helbling nicht. Der Direktor des Schweizers Versicherungsverbandes warnt im Interview davor, das „feintarierte System“ Versicherung aus den Angeln zu heben. Wäre das Kollektivsystem bedroht?

Versicherungswirtschaft: Wie geht es der Schweizer Versicherungsbranche aktuell?

Thomas Helbling: Der Branche geht es den Umständen entsprechend gut: Die Schweizer Privatversicherer zeichnen sich seit Jahren durch ausgesprochene Solidität und durch ein langfristiges stetiges Wachstum aus. Außerdem haben sich in den vergangenen 20 Jahren zahlreiche Rückversicherer hier niedergelassen und den Großraum Zürich zu einem bedeutenden Rückversicherungsstandort werden lassen. Die Stabilität der Branche hilft den Privatversicherern jetzt auch, die volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise zu bewältigen.

Beispiele?

Thomas Helbling: Ein Beispiel ist unser Einsatz dafür, dass die Naturgefahren in der Schweiz trotz weiter zunehmender Schäden versicherbar bleiben. Viele Versicherungsgesellschaften investieren in Forschung und Präventionsprojekte. Als Branche arbeiten wir seit zehn Jahren gemeinsam mit dem Staat für die Prävention. Unsere jüngste Errungenschaft ist die „Gefährdungskarte Oberflächenabfluss“. Sie dient der Prävention von Überschwemmungen, die durch Wasser entstehen, das nach Starkniederschlägen nicht versickert, sondern auf der Geländeoberfläche abfließt. Oberflächenabfluss verursacht rund 50 Prozent der Schäden durch natürliche Wassergefahren. Die Karte steht in der Schweiz allen kostenlos zur Verfügung. Selbstredend sind wir nun im Zuge der Corona-Krise dazu übergegangen, auch den Pandemieschutz neu zu denken.

Schweizer Versicherer generieren jährlich 2,7 Mrd. Franken direkte Steuern, 200 Akteure sind im Land tätig, darunter auch Global Player wie Swiss Re, Zurich, Swiss Life oder Baloise als Aushängeschilder. Wie wichtig sind diese großen Namen für den Standort Schweiz?

Thomas Helbling: Sie nennen die Versicherer, die ihren Hauptsitz in der Schweiz haben und über Tochtergesellschaften und Zweigniederlassungen im Ausland tätig sind. Diese Unternehmen, zu denen auch die Helvetia gehört, existieren allesamt seit fast 200 Jahren. Sie stehen für Solidität und Sicherheit, und sie machen den Schweizer Versicherungsstandort weit über die Landesgrenze hinaus bekannt. Sie sind ein wichtiger Teil des Versicherungsmarktes, der sich durch eine breite Diversifizierung und einen gut funktionierenden Wettbewerb auszeichnet. Zu den großen Playern zählen auch die Zweigniederlassungen großer ausländischer Gesellschaften wie Axa, Generali und Allianz sowie die beiden genossenschaftlich organisierten Traditionsunternehmen Mobiliar und Vaudoise.

Was kann sich Deutschland vom Versicherungsstandort Schweiz abschauen – und umgekehrt?

Thomas Helbling: Es wäre vermessen, hier in meiner Funktion als Verbandsdirektor Ratschläge zu erteilen. Ein direkter Vergleich ist zudem wegen der erheblichen strukturellen Unterschiede zwischen den beiden Ländern kaum möglich: Nicht nur die Größe der beiden Märkte ist entscheidend, sondern auch, dass Deutschland Mitglied der EU ist und die Schweiz nicht.

Als Verband profitieren wir in der Schweiz sicherlich von der politischen Tradition der Miliz: Unser Parlament ist ein Milizparlament. Auch unser Versicherungsverband arbeitet als Milizstruktur und vereinigt rund 600 Experten, die sich, neben ihren angestammten Funktionen bei unseren Mitgliedern, für den Verband einsetzen. Entsprechend ist unsere Geschäftsstelle mit 35 Mitarbeitenden verhältnismäßig schlank aufgestellt.

Auch die Schweiz steht gegenwärtig vor enormen Herausforderungen – Corona, Digitalisierung, neue Geschäftsmodelle, niedrige Zinsen. Welche ist derzeit die größte?

Thomas Helbling: Derzeit stehen neben der Bewältigung der Corona-Krise, die Nachhaltigkeitsthemen und die Sanierung der Altersvorsorge ganz oben auf unserer Agenda.

Befürchten Sie, dass andere wichtige Strategiepunkte auf den Agenden der Versicherer durch Corona jetzt in den Hintergrund geraten? Wenn ja, welche Folgen hätte das aus Ihrer Sicht?

Thomas Helbling: Keinesfalls. Das Leben mit der Pandemie wird Spuren hinterlassen und den Trend zu mehr Nachhaltigkeit noch beschleunigen. Unser Wille, das Pandemierisiko versichern zu können, ist ja gerade ein Beispiel dafür. Die Nachhaltigkeit gehört zur DNA von uns Privatversicherern. Wir sind bereit, aktiv dazu beizutragen, die zentralen ökologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Herausforderungen zu meistern. Für uns Versicherer ist auch die Altersvorsorge eine Frage der Nachhaltigkeit.

Es geht nicht an, die Klimafrage effektvoll zu diskutieren und gleichzeitig an einer Altersvorsorge festzuhalten, die zulasten der Jungen geht. Und hier hat die Corona- Krise auch etwas Gutes, denn sie führt noch deutlicher vor Augen, was auf kommende Generationen zukommen wird, wenn wir jetzt nicht endlich handeln. Und dass auch in der Schweiz schnell gehandelt werden kann, zeigt wiederum die Aktionsgeschwindigkeit in der Krise. Daran muss sich das Parlament nach Überwindung der Corona-Krise auch in der Frage der Vorsorge für Jung und Alt orientieren.

Die Branche steht auch in der Schweiz teilweise in der Kritik, weil Pandemien in den Versicherungsbedingungen meistens ausgeschlossen werden. Wieso sind Pandemieversicherungen so schwierig?

Thomas Helbling: Weil eine Pandemie die Grenzen der Versicherbarkeit überschreiten kann. Für die Versicherer zählt eine Pandemie zu den sogenannten Kumulrisiken. Damit sind Gefahren gemeint, die in relativ kurzer Zeit sehr viele Schäden anrichten. Und bei Kumulrisiken, bei welchen Unternehmen weltweit gleichzeitig Schäden geltend machen, funktioniert das Prinzip der Risikostreuung nicht mehr ohne Weiteres.

Flüchten sich die Versicherer aus ihrer Verantwortung?

Thomas Helbling: Davon kann keine Rede sein. Die Kritik in der Öffentlichkeit ist verständlich, da ohne einen tieferen Blick in die Versicherungsökonomie nur schwer nachvollziehbar ist, warum eine Pandemie kaum versicherbar ist. Wir wollen bei Kundinnen und Kunden unserer Mitglieder eine Akzeptanz erreichen, dass die Versicherer wegen gesetzlichen und aufsichtsrechtlichen Vorgaben nur diejenigen Schäden decken dürfen, für die eine Versicherungsdeckung besteht – und für die sie die entsprechenden Prämien eingenommen haben. Dieses feintarierte System darf auch bei einer außerordentlichen Lage nicht einfach aus den Angeln gehoben werden, weil dies zulasten des Versicherungskollektivs ginge.

Was bedeutet das mit Blick auf die Zukunft?

Thomas Helbling: Dass wir Verantwortung übernehmen wollen. Um für neue Pandemien gewappnet zu sein, kann eine Public-Private- Partnership eine Lösung darstellen, so wie unsere Elementarschadenversicherung, die die Auswirkungen bestimmter Naturereignisse national bündelt. Wie eine solche Lösung für Pandemierisiken konkret aussehen könnte, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch ungewiss. Aber wir stehen bereit, um mit unserer Expertise Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen und zu unterstützen.

Stellen Sie sich vor, Corona ist bereits überwunden. Wo stehen die Schweizer Versicherer dann? Welche Aufgaben stehen jetzt vor den Unternehmen?

Thomas Helbling: Es ist nicht absehbar, wie lange die Corona-Krise noch dauert. Folglich möchte ich mich auch nicht festlegen, wo wir danach stehen werden. Eines ist jedoch jetzt schon klar – mit der Corona-Krise werden unsere Kernthemen noch wichtiger: Eine nachhaltige Versicherungslösung für eine nächste Pandemie, die Reform des Systems der Altersvorsorge, die Verankerung der Nachhaltigkeit, damit Naturgefahren versicherbar bleiben – und last but not least, die Transformation der Versicherungswirtschaft zu einem attraktiven Arbeitgeber in einer digitalen Zukunft.

Die Fragen stellte VW-Redakteur Michael Stanczyk.

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