Andreas Meyerthole: „Das Kumulrisiko Feuer rückt in der Öffentlichkeit etwas in den Hintergrund“

Waldbrand, Quelle: Bild von Valter Cirillo auf Pixabay

Waldbrände haben die Behörden in diesem Sommer bereits besonders stark in Atem gehalten. So wütet aktuell auf Gran Canaria ein schweres Feuer, forderte der Dürresommer in Deutschland allein in diesem Jahr durch Waldbrände 2.350 Hektar Waldfläche. Zudem sorgte der Brand der Pariser Kathedrale Notre-Dame im April 2019 für weltweites Aufsehen. Wie die Versicherer das Kumulrisiko Feuer besser in den Griff bekommen können, erläutern Eva Remberg und Dr. Andreas Meyerthole von der aktuariellen Beratungsgesellschaft Meyerthole Siems Kohlruss im Interview mit VWheute.

Die Analyse des Feuerrisikos hat unter Solvency II an Bedeutung gewonnen. Erklären Sie bitte, inwiefern eine solche Analyse für Sachversicherer heute so wichtig ist?

Andreas Meyerthole: Wenn wir heutzutage über Kumulrisiken sprechen, sind – in Zeiten des vom Menschen verursachten Klimawandels und Bewegungen wie „Friday for Future“ – Naturkatastrophenrisiken und – in Zeiten der Vernetzung und Digitalisierung – Cyberrisiken sehr präsent. Das Kumulrisiko Feuer rückt in der Öffentlichkeit etwas in den Hintergrund, ist dennoch als eines der Urrisiken der Sachversicherung in der Assekuranz heute wie damals von Bedeutung. Einer der schlimmsten Brände der deutschen Geschichte ist der große Hamburger Brand von 1842, dessen gesamter Sachschaden einem heutigen Geldwert von mehr als einer Milliarde Euro entspräche. Dass das Feuerrisiko auch in der heutigen Zeit nicht gebannt ist, zeigt z.B. der Brand von Notre-Dame in Paris im April. In jedem Fall machen solche Beispiele von damals wie heute deutlich, dass bei der Bewertung des Feuerrisikos der Aspekt der Risikokonzentration berücksichtigt werden sollte.

Eva Remberg: Unter Solvency II wird das Feuerrisiko daher im Untermodul Katastrophenrisiko berücksichtigt, und die Kapitalanforderung ist definiert über die Versicherungssumme der größten Feuerrisikokonzentration. Dabei dient als Exposure die Gebäudegruppe mit der höchsten kumulierten Versicherungssumme, deren Gebäude vollständig oder teilweise innerhalb eines Radius von 200 Metern liegen. Im Szenario der Konzentration des Feuerrisikos wird also der wahrscheinliche Höchstschaden für alle Gebäude zugrunde gelegt, die – wenn auch nur teilweise – in dem Umkreis von 200 Metern liegen. Beispielhaft haben wir für die Sparte Verbundene Wohngebäudeversicherung ausgewählte feuerversicherte Bestände analysiert und die Kapitalanforderung gemäß der Standardformel bestimmt. Vor Rückversicherung und Diversifikation haben wir einen Kapitalbedarf von bis zu 1.000 Prozent der Bruttoprämie ermittelt. Insbesondere lokale Feuerversicherer kämpfen mit hohen Risikokonzentrationen und damit verbunden hohen Kapitalanforderungen. Diese lassen sich durch Modifikationen an der Rückversicherungsordnung erheblich reduzieren.

Welche Rolle spielen bei der Analyse Big Data?

Eva Remberg: Zur Bestimmung der größten Feuerrisikokonzentration gemäß der Standardformel müsste die Fläche, über die sich ein feuerversicherter Bestand erstreckt, in der Theorie stetig nach dem 200-Meter-Radius mit der höchsten kumulierten Versicherungssumme abgesucht werden. Das heißt, es müsste um jeden denkbaren geographischen Mittelpunkt gedanklich ein Kreis gezogen und für jedes versicherte Gebäude überprüft werden, ob es in diesem Kreis liegt. In der Praxis ist eine derart erschöpfende Suche zu aufwendig. Mit einigen Versicherern haben wir uns deshalb zu der Entwicklung effizienter Ansätze ausgetauscht, wobei wir mit unserer Lösung den Rechenaufwand im Vergleich zu einer erschöpfenden Suche von beispielsweise fünf Jahren auf weniger als fünf Sekunden reduzieren können. Damit solch ein Verfahren funktioniert, müssen als eine wesentliche Voraussetzung die Daten für eine valide Zuordnung auf Kreisradien vorhanden sein.

Welche Eigenschaften müssen die Daten dafür erfüllen?

Eva Remberg: Die Adressen der feuerversicherten Risiken müssen auf die Hausnummer genau erfasst sein, so dass die Adressdaten mit Geokoordinaten angereichert werden können. Neben einer korrekten Geokodierung muss eine Datenvalidierung auch sicherstellen, dass die versicherten Adressen keine Sammelverträge beinhalten, bei denen die unter einem solchen Vertrag versicherten Gebäude, einer einzigen Adresse oder einem Postfach zugeordnet sind. Dies kann eine Risikokonzentrationsanalyse deutlich verzerren. Dies haben wir in einer Analyse deutlich beobachtet, bei der die Gebäude des Erzbistums Köln unter einer einzigen Adresse erfasst waren.

Einige Unternehmen widmen sich der von Ihnen angesprochenen individuellen, risikogerechten Bewertung des Feuerrisikos. Wie sieht dies konkret aus?

Andreas Meyerthole: Für die unternehmenseigene Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung dient das Standardmodell oft als Basis der Bewertungen. Um die Komplexität bzw. den Berechnungsaufwand für die Standardformel und speziell das Feuerrisiko in Grenzen zu halten, wurde mit der Änderung der Delegierte Verordnung im März dieses Jahres 2019 eine Vereinfachung eingeführt: Versicherer können demnach ihr Verfahren zur Ermittlung der größten Feuerrisikokonzentration auf den Bereich ihrer größten Risikopositionen beschränken – sofern dieser Ansatz der Art, dem Umfang und der Komplexität der Risikoexponierung gerecht wird. Prinzipiell ist es begrüßenswert, dass mit der Anpassung der Standardformel das Proportionalitätsprinzip weiter gestärkt wird. In unserer Lösung können wir die Anzahl der sequentiell zu berechnenden Kumule flexibel wählen.  

Eva Remberg: Eine Sensitivitätsanalyse ist auch hinsichtlich verschiedener Kreisradien sinnvoll, denn die Wahl von einem Umkreis von 200 Metern als Maß für die Konzentration innerhalb der Standardformel ist das Ergebnis von Schadenstatistiken und Expertenmeinungen und kann von der individuellen Risikosituation abweichen. Bei der Analyse ausgewählter Bestände für die Sparte verbundene Wohngebäude haben wir beobachtet, dass sich je nach Wahl des Radius nicht nur die Kapitalanforderung, sondern auch die geographische Lage des größten Feuerkumuls deutlich ändern kann. Für Industrieversicherer ist diese Sensitivität tendenziell geringer, da das größte Feuerkumul vielmehr durch ein einzelnes Großrisiko als durch eine große Anzahl von Einzelrisiken bestimmt wird. In der Sensitivitätsanalyse sind auch andere geometrische Formen als die des Kreises für die Erfassung der geographischen Ausdehnung eines Kumuls denkbar. So können wir den Kreis als Spezialfall einer Ellipse ansehen. Mit elliptischen Formen arbeiten wir zum Beispiel auch bei der Modellierung von Hagelzügen.

Neben Feuer spielen ja auch andere Elemente – Hagel, Sturm, Starkregen – eine entsprechende Rolle: Lassen sich die genannten Methoden auch auf solche Naturgefahren übertragen?

Eva Remberg: Die schon angesprochenen Hagelzüge weisen in der Regel die geometrische Form einer Ellipse auf, und sie treten mit einer hohen Zufälligkeit sehr lokal auf. Basierend auf historischen Hagelereignissen, wie zum Beispiel einem Hagelzug des Sommers 2016, können wir Ellipsen parametrisieren um etwa die Frage zu beantworten, wie hoch das Schadenpotential gewesen wäre, wenn genau dieser Hagelzug in einer anderen Region aufgetreten wäre.

Andreas Meyerthole: Ein Vorgehen dieser Art wird oft auch bei der Modellierung von Stürmen angewendet. Die Lokalität von Stürmen ist jedoch weniger zufällig, daher arbeiten wir mit einem Ansatz, der aus historischen Wetterdaten realistische Sturmereignisse generiert und deren Schadenpotential quantifiziert. Bei Starkregen hat man wiederum einen anderen Einflussfaktor. Die Starkregengefährdung hängt wesentlich von den lokalen Abflussmöglichkeiten des Wassers ab, weshalb hier alternative Modellierungsansätze gefragt sind

Eva Remberg, Aktuarin (DAV), ist Beraterin bei der aktuariellen Beratungsgesellschaft Meyerthole Siems Kohlruss. Andreas Meyerthole, Aktuar (DAV), ist Mitgründer und geschäftsführender Gesellschafter. Ihre Schwerpunkte sind Rückversicherung, Risikomanagement und Modellierung.