DAV-Vorstand Frank Schiller: „Ein weltweiter Lockdown war nicht vorhersehbar“

Frank Schiller. Quelle: DAV

Die Coronapandemie hat uns in den vergangenen eineinhalb Jahren in vielerlei Hinsicht beeinflusst. Privat waren wir um das gesundheitliche Wohlergehen unserer Familie und Kolleg*innen besorgt und der Lockdown hat unsere privaten Freiheiten beschränkt. Von DAV-Vorstand Frank Schiller.

Beruflich mussten wir uns mit den Auswirkungen der Krise auf unsere Unternehmen, den Kapitalmarkt und den daraus folgenden Risiken beschäftigen. Aber wir konnten auch viel Neues lernen, insbesondere wie wir als Aktuar*innen mit großen Unsicherheiten umgehen können, die in Situationen wie der COVID-19-Pandemie entstehen.

Rückblickend ist klar: In all unseren Betrachtungen zu den Folgen von Pandemien hatten wir den in Etappen bis Mitte 2021 anhaltenden sehr konsequenten Lockdown mit seinen Auswirkungen auf die Wirtschaft gnadenlos unterschätzt. Wir befinden uns damit aber in guter Gesellschaft. Viele Organisationen und auch die Presse hatten eine ähnliche Einschätzung. So titelte CNN am 27. Januar 2020: „China’s unprecedented reaction to the Wuhan virus probably couldn’t be pulled off in any other country.”

Warum wurde das Risiko übersehen?

Der Nutzen eines Lockdowns im Vergleich zu den daraus resultierenden Problemen war zu Beginn umstritten. Viele konnten sich nicht vorstellen, dass ein westlicher Staat in ähnlicher Konsequenz wie China auf eine Pandemie reagieren wird. Pandemien wurden von vielen Staaten bereits seit Anfang der 2000er regelmäßig beleuchtet, auch in Deutschland in einer Risikoanalyse des Robert-Koch-Instituts von 2012, und ein kompletter Lockdown war dort als Reaktion nicht vorgesehen. Die Beschränkung der Freiheit des Einzelnen war von vielen Expert*innen als nicht verhältnismäßig eingeschätzt worden. Und selbst nach der ersten Welle der aktuellen Pandemie bestand noch große Unsicherheit, welche Strategie tatsächlich am wirkungsvollsten ist.

Andererseits hatten die dramatischen Entwicklungen in Norditalien zu Beginn der Pandemie der Politik gewissermaßen keine andere Wahl gelassen, als drastische Maßnahmen zu ergreifen. Unter dem Druck einer sich so unvorhergesehen schnell entwickelnden Ausbreitung der Krankheit mit schockierenden Bildern von Tausenden von Toten implementierten viele Staaten entsprechend schnell Maßnahmen, die letztendlich zum Lockdown führten. Auch weil erste, kleinere Maßnahmen zuvor nicht schnell genug Wirkung zeigten. Hier zeigen sich die Eigenschaften einer Pandemie, die zu genau diesen schwer vorherzusagenden Dynamiken führen und eine stabile Vorhersage nahezu unmöglich machen. Dies erklärt auch, dass zuerst keiner an den Lockdown dachte, aber durch die Entwicklung der Pandemie letztlich der Lockdown unvermeidbar wurde.

Was können wir hieraus zum einen speziell bezüglich der Bewertung von Pandemierisiken in der Zukunft als auch generell für den Umgang mit Risiken ableiten?

Lehren für andere Emerging Risks

Der Ergebnisbericht „Emerging Risks“ der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV) zeigt, dass es potenziell sehr viele und schwer einzuschätzende Risiken gibt, die wiederum sehr spezifische Maßnahmen erfordern. Eine Pandemie ist eine gänzlich andere Gefahr als ein Meteoriteneinschlag, ein Sonnensturm oder der Klimawandel. Das Vorhalten von Atemmasken wird in der nächsten Krise gegebenenfalls wenig nützen.

Sehr wohl aber gilt es, aus dieser Krise zu lernen: COVID-19 hat uns eindringlich den Zustand unserer heutigen, modernen Welt vor Augen geführt. Die globalisierte und eng vernetzte Weltwirtschaft ist von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität – kurz VUKA – geprägt. Gemäß des VUKA-Ansatzes müssen wir auf die Problemstellungen und Herausforderungen unserer heutigen Welt mit entsprechenden Lösungen reagieren, ebenfalls abgekürzt durch VUKA: Vision, Understanding (Verstehen), Klarheit und Agilität. Nach dem VUKA-Konzept kommt es für die Unternehmen darauf an, die Komplexität der Problemstellungen zu durchdringen und die Risikotreiber zu verstehen. Auf diese Weise werden Unternehmen robuster und resilienter.

Um die Brücke zum Risikomanagementprozess zu schlagen: Folgt man dem VUKA-Gedanken, sind Risikoinventur und -bewertung in einem Unternehmen fortlaufend zu aktualisieren und das unter Einbezug möglichst vieler Informationsquellen aus unterschiedlichsten Perspektiven. Auch die Anwendung neuer Techniken ist denkbar, um das Risiko besser durchdringen und verstehen zu können, zum Beispiel die Bewertung von Risiken mithilfe eines sogenannten Situation Rooms. Dort spielen Vertreter*innen aus verschiedenen Bereiche für einzelne Risiken konkrete Szenarien über einen längeren Zeithorizont durch und beleuchten diese aus unterschiedlichen Blickwinkeln auch unter Einbeziehung von Expert*innen anderer Sparten und Bereiche.

Lassen Sie uns das an einem Beispiel konkretisieren: den Übergangsrisiken im Klimawandel. Diese entstehen aus Reaktionen von Regierungen und Unternehmen, um dem Klimawandel effektiv zu begegnen. Ähnlich wie bei COVID-19 und dem Lockdown als Ultimo Ratio kann es sich zeigen, dass das Tempo der Reduktion von CO2-Emissionen zukünftig forciert werden muss und Maßnahmen deutlich über das hinausgehen, was bisher beobachtet werden konnte.

Versicherungsunternehmen sind in vielfältiger Weise von diesen Übergangsrisiken betroffen: So können gewisse Investments („Brown Assets“) auf der Kapitalanlageseite an Wert verlieren und es kann auch im Versicherungsbestand zu drastischen Veränderungen kommen, z. B. durch sich verändernde Preise oder Risikoappetit oder -exposures. So könnte als Maßnahme gegen den Klimawandel die Anzahl der Fotovoltaikanlagen auf den Dächern schnell erhöht werden, während das Risiko für Hagelschäden durch den Klimawandel deutlich zunimmt.

Da unklar ist, wann und in welcher Form sich diese Übergangsrisiken realisieren, ist eine direkte Quantifizierung schwierig. Das Instrument der Szenarioanalyse hat sich während der COVID-19-Pandemie als sinnvoll erwiesen, um in Abhängigkeit möglicher Verläufe die Auswirkungen auf die Unternehmen durchzuspielen und wäre auch hier sinnvoll.

Die VUKA-Ansätze eignen sich damit nicht nur bei der Identifikation und Bewertung von „Emerging Risks“, die sich erst künftig realisieren, sondern insbesondere auch bei der Risikosteuerung während eines eingetretenen „Emerging Risks“, wie der COVID-19-Pandemie. Denn gerade „inmitten des Sturms“ stellen die schwierigen Rahmenbedingungen die Unternehmensleitung und das Risikomanagement vor besondere Herausforderungen.

Methoden müssen weiterentwickelt werden

Die COVID-19-Pandemie hat uns an vielen Stellen verdeutlicht, wo wir im Umgang mit Risiken insbesondere in einer zunehmend komplexer und unsicher werdenden Welt noch dazulernen können. Wir sollten die Chance nutzen, unsere Methoden und Prozesse robuster, effektiver, aber auch effizienter auszugestalten. Davon werden wir dann auch in normalen Zeiten und im Hinblick auf kommende „Emerging Risks“ profitieren. Das nächste Thema steht schon vor der Tür: der Klimawandel.

Autor: Frank Schiller, Vorstandsmitglied der Deutschen Aktuarvereinigung

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