Wettbewerbsnachteile durch Brexit? „Zugeständnisse gegenüber UK-Versicherern müssen vermieden werden“

Quelle: stux/Pixabay

Wie auch immer die Brexit-Verhandlungen ausgehen, für die Versicherungsbranche wird sich nicht mehr viel ändern, glauben die KPMG-Experten Olaf Seidel und Frank Püttgen. Im Interview erklären Sie welche Sparten besonders vom Brexit betroffen sind, wer die Gewinner der Abspaltung sind und was Eiopa unbedingt beachten muss.

VWheute: Die Brexit-Übergangszeit endet am 31. Dezember 2020. Welches Szenario ist am wahrscheinlichsten? Ein Deal in letzter Minute?

Soweit Sie hiermit ein mögliches Handelsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich (United Kingdom) und der EU ansprechen, müsste man zwischen dem Warenverkehr auf der einen Seite sowie dem Dienstleistungsverkehr – und zwar gerade dem von Finanzdienstleistungen wie Versicherungsprodukten – auf der anderen Seite unterscheiden.

Ob ein Handelsabkommen im Hinblick auf Waren tatsächlich zustande gebracht wird, lässt sich zu dieser Stunde noch nicht sagen. Gerade in der Wirtschaft – oder genauer gesagt in der Wirtschaftspolitik – gilt aber, wo ein Wille ist, sollte auch immer ein Weg sein. Aktuell könnte man die Lage ggf. so auffassen, dass keine der Parteien sich zuerst aus der Deckung bewegen und sich nachsagen lassen will, auf die jeweils andere Partei durch einen Kompromiss zugegangen und nationale oder gemeinschaftliche Interessen preisgegeben zu haben. Dies gilt auch deshalb, da ein Deal immer auch dem eigenen Lager erst noch „verkauft“ und von den jeweiligen Parlamenten, d.h. insb. dem Europäischen Parlament und dem britischen Unterhaus, abgesegnet werden muss.

Für den Bereich der Finanzdienstleistungen – und damit für Versicherungsprodukte – dürfte es aber auch unerheblich sein, wie die Verhandlungen ausgehen werden. Auch durch einen sogenannten „Last Minute Deal“ wird sich für die Versicherungsbranche voraussichtlich nicht viel ändern. Soweit ersichtlich, wird ein Handelsabkommen, anders als für den Bereich Warenverkehr, für den Finanz- und Versicherungssektor von beiden Parteien nicht verfolgt.

UK-Versicherer, die in Kontinentaleuropa tätig sein möchten, oder deutsche Versicherer, die UK-Risiken zeichnen, dürften sich inzwischen auf den Wegfall des gemeinsamen Marktes vorbereitet haben. Es macht auch keinen Sinn, die strategische Geschäftsentwicklung dauerhaft von Verhandlungen politischer Entscheidungsträger und hypothetischen Vereinbarungen abhängig zu machen. Viele unserer Mandanten gestalten ihre Wachstumsperspektiven aktiv auf der Basis von Fakten. D.h. sie schaffen die notwendigen Voraussetzungen, um auf Basis vorhandener bzw. realistisch absehbarer Rahmenparameter Marktchancen zu nutzen. Der Brexit-Prozess hat gezeigt, dass es nicht lohnt, sich in Spekulationen zu verlieren. Gerade in unserer integrierten Strategie- und Rechtsberatung, mit der wir eine ganze Reihe von Unternehmen im Hinblick auf den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU unterstützen, zeigen wir konkrete Lösungsmöglichkeiten auf.

VWheute: Welches sind die größten Risiken der europäischen und deutschen Versicherungswirtschaft im Hinblick auf den Brexit?

Die größten Risiken für Versicherer aus der EU bzw. Deutschland ergeben sich nicht aus dem absehbaren Verlust der Möglichkeit des Marktzuganges zum Vereinigten Königreich im Dienstleistungsverkehr. Große Gefahren bestehen vielmehr, falls zur Abwendung eines harten Brexits Zugeständnisse gegenüber UK gemacht werden sollten, die das durch die Solvency II-Richtlinie innerhalb der EU / dem EWR etablierte „Level Playing Field“ im Verhältnis zu dem gleichsam auf der Türschwelle befindlichen Drittstaat UK aufweichen würde.  

Zu vermeiden ist in jedem Fall, dass für die Versicherungsbranche in der EU und damit auch für die deutschen Versicherungsunternehmen im Binnenmarkt Wettbewerbsnachteile entstehen. Die britische Regierung hat z.B. in der Vergangenheit angekündigt, die Regulierung für UK-Versicherer lockern zu wollen. So könnte etwa die Eigenmittelquote reduziert werden, wodurch die britischen Versicherer zusätzlich verfügbares Kapital erhalten könnten.

Zwar hat das Vereinigte Königreich das europäische Aufsichtsrecht in den drei relevanten Bereichen Rückversicherung, Solvabilitätsberechnung und Gruppenaufsicht mit Wirkung zum 1. Januar 2021 bereits als äquivalent anerkannt, hierbei dürfte aber gerade das Eigeninteresse des Vereinigten Königreichs im Vordergrund stehen. Auch wenn die von Solvency II vorgesehenen Äquivalenzregime keinen vollen Markzugang gewährleisten, sondern punktuell in den benannten Bereichen wirken, sollten Kommission und EIOPA sich von der vorauseilenden Anerkennung des Vereinigten Königreichs nicht beeindrucken lassen und die Äquivalenz-Anerkennung des UK-Aufsichtsregimes sorgfältig prüfen. Zwangsläufig muss vor einer Anerkennung feststehen, welche versicherungsaufsichtsrechtlichen Änderungen im Vereinigten Königreich geplant werden.     

Sollte etwa ein im Vergleich zu Solvency-II lockereres britisches Aufsichtsrecht von der EU im Bereich der Rückversicherung als äquivalent anerkannt werden, könnten britische Rückversicherer aufgrund geringerer Regulierung ggf. einen Wettbewerbsvorteil gegenüber deutschen Rückversicherern haben. Eine solche Situation sollte vermieden werden.

VWheute: Welche Versicherungsparten sind besonders vom Brexit betroffen?

Sicherlich sind es insbesondere die Industrieversicherungssparten und der Bereich der Financial Lines-Versicherungen, wie etwa die D&O-Versicherung und die Cyber Risk-Versicherung, welche potentiell am meisten durch den Brexit betroffen sind. Große Versicherungsprogramme, etwa im Bereich der Haftpflichtversicherung von Pharmazie- und Chemieunternehmen, aber auch große Sachversicherungsprogramme von deutschen Versicherungsnehmern, sind traditionell gerade auch durch Versicherer aus dem Londoner Versicherungsmarkt mit besetzt worden.

Unabhängig davon – oder vielleicht besser zusätzlich zum Brexit – ist auch in Folge der Covid-19-Pandemie eine „Härtung“ der Versicherungsmärkte zu erkennen. Allenthalben wird von Prämiensteigerungen bei einer Verringerung des Versicherungsschutzes berichtet. Nicht nur aufgrund des Brexits befindet sich die Versicherungsbranche derzeit in einem Umbruch. Die Versicherungswirtschaft ist aufgefordert, neue Konzepte zur Deckung von Pandemie- und Cyberrisiken zu entwickeln, die von EIOPA richtigerweise immer wieder als systemisch relevant bezeichnet werden. Unserer Wahrnehmung nach haben Versicherer bereits begonnen, ihre Portfolien auf Vordermann zu bringen. Viele Unternehmen haben ihre Geschäftsstrategie bereits auf die Zeit „Post Brexit“ und „Post-Covid-19“ ausgerichtet.   

VWheute: Was gibt es noch für Risiken für die Branche abseits der Versicherungsverträge? Eine mögliche Verknappung der Versicherungskapazitäten?

Ob eine umfängliche Verknappung von Versicherungskapazitäten auf dem europäischen Markt allein durch den Brexit eingetreten ist, lässt sich vor dem Hintergrund der bereits angesprochenen Marktentwicklung nur schwer sagen. Nimmt man exemplarisch den Bereich der D&O-Versicherung, so kann die derzeit zu erlebende Marktkonsolidierung der Versicherungsprämien, Versicherungssummen und auch Versicherungsbedingungen in Deutschland als lange überfällig bewertet werden. Brexit – und wahrscheinlich mehr noch Covid-19 – haben hier als Katalysatoren gewirkt und eine Entwicklung beschleunigt, welche im Grunde zwangsläufig war.

In Bezug auf den Brexit kann jedenfalls konstatiert werden, dass viele große und auch mittlere Versicherer aus dem Vereinigten Königreich Tochterunternehmen in der EU errichtet haben, insbesondere in Luxemburg, Irland und Belgien. Auch die Versicherungsbörse Lloyd‘s of London hat mit der Lloyd‘s Insurance Company SA mit Sitz in Brüssel einen Risikoträger auf dem Kontinent gegründet. Wir würden erwarten, dass noch weitere Versicherer aus dem Vereinigten Königreich, die noch kein Tochterunternehmen oder eine Drittstaaten-Niederlassung in der EU etabliert haben, nachdem sich die Verhältnisse nun hoffentlich endlich klären, nachziehen und Unternehmungen in der EU starten werden.

Aus der „Zwangsabstinenz“ einiger Markteilnehmer aus dem Vereinigten Königreich ergeben sich im Übrigen auch Geschäftschancen – und dies nicht nur für deutsche Versicherer, sondern auch für Versicherer aus anderen EU-Mitglieds- und EWR-Vertragsstaaten, wie etwa aus Frankreich, Italien und Spanien. Kapazitätsengpässe dürften gerade auch unter Berücksichtigung von Rückversicherungslösungen zumindest mittelfristig EU-intern ausgeglichen werden.

VWheute: Was ändert sich für deutsche Versicherer, die in Großbritannien Risiko zeichnen?

Mit Ablauf der im Austrittsvertrag zwischen UK und der EU vorgesehenen Übergangsfrist („Transition Period“) zum 31. Dezember 2020 wird das Vereinigte Königreich aus der Perspektive der EU-Staaten zu einem Drittstaat und umgekehrt. Die Konsequenzen sind der Verlust des sogenannten „europäischen Passes“ („EU Passporting“) und damit der Möglichkeit, für Versicherer aus der EU und UK ohne eine Niederlassung im Wege des Dienstleistungsverkehrs grenzüberschreitend in dem jeweils anderen Territorium tätig zu werden. Für einen Geschäftsbetrieb ist deshalb grundsätzlich entweder die Errichtung einer Drittstaaten-Niederlassung (Third Country Branch, „TCB“) oder eines Tochterunternehmens notwendig.

Um einen geordneten Übergang zu sichern, wurden aber vom Gesetzgeber im Vereinigten Königreich das Financial Services Contracts Regime („FSCR“) sowie das Temporary Permissions Regime („TPR“) in Kraft gesetzt. Durch das FSCR können EU und damit deutsche Versicherer auch ohne eine vollständige Zulassung in UK bestehende Versicherungsverträge mit einer Vertragslaufzeit über den 1. Januar 2021 hinaus für eine Übergangszeit von maximal 15 Jahren in UK weiter erfüllen und abwickeln. Eine vorzeitige Auflösung oder Abwicklung bestehender Versicherungsverträge mit Versicherungsnehmern in UK oder einer anderweitigen Risikobelegenheit in UK wird damit vermieden und der ordnungsgemäße Run-Off sichergestellt.

Das bis zum 31. Dezember 2023 laufende TPR dient dazu, einen nahtlosen Übergang von der EU-Zulassung hin zur ab 1. Januar 2021 grundsätzlich vorgesehen vollständigen Zulassung einer TCB oder eines neuen Versicherungsunternehmens in UK durch die Prudential Regulation Authority („PRA“) und die Financial Conduct Authority („FCA“) zu ermöglichen.

Die meisten großen deutschen Versicherer haben die Errichtung einer TCB im Vereinigten Königreich beantragt und befinden sich mitten im Zulassungsverfahren, sodass über die TCB auch über die Zeitspanne des Temporary Permissions Regime hinaus in Zukunft Risiken im Vereinigten Königreich gezeichnet werden können. Anders ist die Lage aber bei mittelgroßen und kleineren Versicherern, welche möglicherweise eher den Aufwand der Gründung einer Niederlassung scheuen. Ohne solche Niederlassung können über den Zeitraum des Temporary Permissions Regime hinaus fortan keine Versicherungsprodukte mehr im Vereinigten Königreich angeboten werden.

Deutsche Unternehmen, welche den Versicherungsmarkt des Vereinigten Königreichs für sich als lukrativ bewerten, sollten aber nicht zu große Vorbehalte vor dem zusätzlichen Verwaltungsaufwand und den notwendigen Investitionen haben, welche die Errichtung einer TCB in UK als Eintrittskarte für den dortigen Markt mit sich bringt und sollten stattdessen die Geschäftschancen mit in den Vordergrund ihrer Erwägungen stellen. Das Vereinigte Königreich besitz traditionell weltweit eines der vergleichsweise liberalsten Drittstaatenregime im Bereich der Finanzdienstleistungen. Schon um den Finanzplatz London weiterhin attraktiv zu halten, ist mit Fortführung dieser Politik zu rechnen. Da der Gesetzgeber im Vereinigten Königreich angekündigt hat, die bestehende EU-Gesetzgebung jedenfalls größtenteils zum 31. Dezember 2020 in UK-Gesetzgebung zu transferieren, dürften sich EU-Versicherer mit Niederlassungen in UK aufsichtsrechtlich weiterhin weitgehend auf bekanntem Terrain bewegen.

Die britische Regierung hat überdies angekündigt, dass das Äquivalenz-Regime in UK ein Musterbeispiel für die gesamte Welt sein wird, um der Fragmentierung der Finanzmärkte entgegenzuwirken. Insoweit zeichnet sich ab, dass für UK-Drittstaatenniederlassungen von Versicherungsunternehmen aus der EU / dem EWR die PRA keine scharfen eigenen Kapitalanforderungen hinsichtlich Höhe und Lokalisierung der Assets stellen könnte. Dies dürfte selbst dann gelten, falls die EU hinsichtlich ihrer Solvency II Äquivalenzentscheidung gegenüber UK weiterhin Vorbehalte haben sollte. Im Hinblick auf den prinzipienbasierten Aufsichtsansatz im Vereinigten Königreich dürften PRA und FCA im Sinne der Proportionalität auch keine überspanten Anforderungen an die Geschäftsorganisation von Niederlassungen stellen, gerade soweit diese auf einen vergleichsweise kleineren oder mittleren Geschäftsumfang abzielen. Kosten für die Errichtung einer Niederlassung lassen sich in jedem Fall verringern soweit erfahrene Berater mit eingespielten Teams zur Gestaltung und Umsetzung eingebunden werden.

Insgesamt dürfte die deutsche Versicherungswirtschaft gut auf den Brexit vorbereitet sein und den für die Kontinuität des Geschäftsbetriebs im Vereinigten Königreich notwenigen Investitionsbedarf verschmerzen können. Auch die zu erwartenden zusätzlichen Verwaltungsaufwände dürften in den meisten Fällen verkraftbar sein. 

VWheute: Gibt es Player aus der Versicherungsbranche, die als Gewinner aus dem Brexit hervorgehen?

Im Vorteil sind sicher all diejenigen Versicherer, die strategisch vorgegangen sind und sich frühzeitig mit „Worst Case“-Szenarien auseinandergesetzt haben. Diese Versicherer haben die notwendigen strukturellen Anpassungen in ihren Konzernstrukturen entweder bereits vollständig vorgenommen oder setzen diese derzeit um. Bei der Umsetzung sind dabei Lösungen, die übergreifend betriebswirtschaftliche, aktuarielle und rechtliche Fragestellungen berücksichtigen, essentiell. Auch das strategische Projektmanagement ist bei den grenzüberschreitenden Projekten mit größeren Teams überaus wichtig, um einen effizienten Ablauf im Hinblick auf die Erreichung der Projektziele zu erwirken.

Unsere Mandanten profitieren hier sicherlich von dem fachübergreifenden, integrierten Ansatz bei KPMG. In einer ganzen Reihe von Brexit-Projekten haben wir unsere betriebswirtschaftliche, aktuarielle und rechtliche Expertise eingebracht. Mit diesen Mitteln wurden bestehende Geschäftsfelder vor dem Hintergrund der veränderten Konzern- und Organisationsstrukturen umfassend strategisch bewertet und frühzeitig damit begonnen, neue Geschäftschancen zu identifizieren und möglichst effektiv umzusetzen. Diese Unternehmen haben nun einen zeitlichen Vorsprung und können sich wieder vollständig auf ihre Wachstumsstrategie fokussieren. Wie immer bieten Umbrüche nicht nur Risiken, sondern auch Chancen.

Die Fragen stellte VWheute-Redakteur David Gorr.

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