BKK: Arbeit macht eher gesund als krank
Die Deutschen melden sich immer häufiger und immer länger krank, so ein Ergebnis des jährlich erscheinenden „BKK-Gesundheitsreport 2019“, der gestern in Berlin vorgestellt wurde. Fast jeder sechste Arbeitsunfähigkeits-Tag war 2018 auf psychische Erkrankungen zurückzuführen, Tendenz steigend. Die Ursachen dafür sind vielfältig.
Anders als bei der Berufsunfähigkeit, bei der psychische Krankheiten längst den Spitzenplatz eingenommen haben, rangierten sie 2018 – zumindest bei den BKK-Versicherten – bei der Arbeitsunfähigkeit (AU) laut 43. Gesundheitsreport des BKK Dachverbandes nur auf Platz 3. Allerdings hat sich die Zahl der Fehltage, die auf psychische Störungen zurückführen lassen, in den vergangenen zehn Jahren deutlich mehr als verdoppelt (+129 Prozent), wie Franz Knieps, Vorstand des BKK Dachverbandes und Mit-Herausgeber des Gesundheitsreports, betonte.
Demgegenüber stiegen Muskel-Skelett-Erkrankungen um 34 Prozent und Atemwegserkrankungen um knapp 52 Prozent an. Letzteres führt Knieps allerdings auf eine ausgeprägte Grippewelle im Jahr 2018 zurück. Tendenziell nehmen die Fehltage aufgrund psychischer Krankheiten einen sicheren zweiten Platz ein. Insgesamt erreichten die Fehlzeiten unter den Versicherten der 76 Betriebskrankenkassen mit 5,1 Prozent 2018 einen neuen Rekord. Im Schnitt war jeder Versicherte 18,5 Tage im Jahr krankgemeldet, meist allerdings maximal eine Woche.
Hierarchien und Arbeitsverdichtung machen krank
Unter den Langzeitfällen, die zum Teil mehr als sechs Wochen krankgeschrieben sind und gut 43 Prozent der AU-Tage ausmachen, seien viele schwere Fälle etwa von Depression, betont der BKK-Chef. Ängste, Zwänge und Belastungsstörungen seien weitere häufige Diagnosen, die zur Arbeitsunfähigkeit führen. Auffällig sei, dass das Gesundheits- und Sozialwesen offenbar besonders anfällig für derartige Störungen ist, da es die Hitliste der häufigsten Fehltage anführt.
„Da müssen wir uns im Gesundheitswesen an die eigene Nase fassen“, gestand Franz Knieps ein. „Ursachen liegen u.a. in extremen Hierarchien, hoher Arbeitsverdichtung und vielfach schlechter Bezahlung.“ Ein besonderes Risiko dafür psychisch krank zu werden stelle Arbeitslosigkeit dar. Beschäftigung sei also eher eine Bedingung für psychische Gesundheit.
Frühverrentung vermeiden
Dem stimmte Prof. Dr. Holger Pfaff von der Universität Köln zu, der als Medizinsoziologe und Versorgungsforscher Mit-Herausgeber des Gesundheitsreports ist. „Nach unseren Erkenntnissen macht Arbeit eher gesund als krank“, betonte er und warnte vor Frühverrentung und Arbeitslosigkeit. Denn Nicht-Beschäftigten seien wichtige Ressourcen versperrt, auf die Beschäftige zurückgreifen könnten. „Dazu zählen vor allem ein hohes Maß an Autonomie in der Arbeit, Wertschätzung sowie soziale Unterstützung durch Kollegen“, erklärte er.
Nur wenn diese Ressourcen nicht ausreichten, um Belastungen am Arbeitsplatz auszugleichen, müsse über einen Wechsel des Arbeitsplatzes nachgedacht werden. Ansatzpunkte für die betriebliche Gesundheitsförderung sind aus seiner Sicht ein ernsthafter Umgang mit der gesetzlich vorgeschriebenen psychischen Gefährdungsbeurteilung, gesunde Führung und die Förderung der Mitarbeiter, selbst für ihre Gesundheit zu sorgen. Dazu gehöre unter anderem auch, dass etwa Überlastungen klar angezeigt würden.
Relativ neu sei das betriebliche Versorgungsmanagement. „Hier geht es darum, dass Unternehmen dafür sorgen, dass Mitarbeiter mit psychischen Problemen schnell die notwendige Behandlung bekommen – entweder durch Vermittlung externer Fachleute oder durch niederschwellige interne Angebote wie Hotlines oder Notfallversorgung im Unternehmen“, rät er. Schnelle Hilfe sei ein Erfolgsfaktor für den Erfolg von Therapien.
Vor dem sogenannten Präsentismus warnte er, weil der viel mehr Kosten verursache als Arbeitsunfähigkeit und gezielte Behandlung. Beim Präsentismus handelt es ich um Mitarbeiter, die trotz – psychischer – Erkrankung am Arbeitsplatz erscheinen, aufgrund der Krankheit allerdings dauerhaft geringere Arbeitsleistungen erbringen. Zusätzlich bestehe die Gefahr, dass derartige negative Stimmungen auf das gesamte Team übergreifen und das soziale Klima als Ganzes eintrüben.
Stigmatisierung aufbrechen
Wie es in einem großen Unternehmen gelingen kann mit dem Phänomen psychische Erkrankungen umzugehen, schilderte Dr. Ulrich Birner, bei der Siemens AG für den Bereich psychologische Gesundheit und Wohlbefinden verantwortlich. Er hält die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz für existenziell, um potenzielle Stressoren zu erkennen und in der Folge auszuschalten. Die würde allerdings vielfach nicht ernst genommen und nur formal abgearbeitet.
„Jede Führungskraft in unserem Konzern erhält für seinen Bereich eine Beurteilung, die nicht nur Defizite auflistet, sondern auch die Stärken, auf die zurückgegriffen werden kann“, berichtete er. Mit vielfältigen Maßnahmen schafft das Unternehmen ein Bewusstsein für die eigene Gesundheit unter den Mitarbeitern, bezieht die Führungskräfte aktiv ein, ermöglicht den Austausch unter den Kollegen, bietet Gesundheitstrainings und -checks sowie Einzelberatungen an.
Ein Hauptproblem dafür, dass Betroffene keine Hilfe erhalten, sei nach wie vor die Angst vor Stigmatisierung. „Es sind vor allem Unwissenheit, Vorurteile und diskriminierendes Verhalten, die nach wie vor das öffentliche Stigma gegenüber Menschen mit psychischen Problemen bestimmen“, bemängelt Birner. „Daher werben wir mit dem Projekt #breakingthesilence seit vier Jahren dafür offen mit dem Thema umzugehen.“
Als die wirksamste Methode haben sich Filme entpuppt, in denen Mitarbeiter über ihre Probleme sprechen. Zudem gibt es Lernspiele für Führungskräfte, kontinuierliche Informationen im globalen Siemens-Newscenter sowie ein Intranet-Portal mit vielen Artikeln zum Thema.
„So wichtig Hilfsangebote unterschiedlicher Art auch sind: Entscheidend sind die Organisationsstrukturen im Unternehmen. Wenn die gesundheitsförderlich sind, geht es den meisten Mitarbeitern gut““, ist er überzeugt. Denn Arbeit diene nicht nur dem Lebensunterhalt und der persönlichen Entwicklung, sondern gebe dem Leben auch Struktur und Planungssicherheit und biete Anerkennung sowie einen Platz in der Gemeinschaft.
Autorin: Elke Pohl