Adesso: „Wirklich disruptiv sind die wenigsten Start-ups“

Jan Philipp Giese, Quelle: Adesso

Klar, künstliche Intelligenz ist toll, disruptiv und so. Doch wie und wann kommt denn jetzt der Wandel? Jan Philipp Giese, verantwortlich für Bereich Consulting Insurance beim IT-Dienstleister Adesso, berät seit 15 Jahren Versicherungsunternehmen. Fragen wir doch ihn, was IT-technisch zeitnah passieren wird.

VWheute: Künstliche Intelligenz gilt als große Zukunftstechnologie auch für die Versicherungsbranche. Wo sehen Sie aktuell die größten Anwendungsmöglichkeiten für Versicherer?

Jan Philipp Giese: Tatsächlich hat die Zukunft bereits Einzug gehalten. Im Inputmanagement werden Mechanismen und Verfahren der Künstlichen Intelligenz bereits im gezielten Auslesen von Informationen aus Dokumenten, E-Mails oder Faxen eingesetzt. KI sorgt dafür, dass die automatisierte Erkennung von unstrukturierten Daten und die Überführung in strukturierte Daten quantitativ und qualitativ stetig besser wird.

Besonders interessant ist natürlich der Einsatz von KI an der Schnittstelle zum Kunden. So kann die Kommunikation mit dem Kunden dann verbessert werden, wenn man treffsicherer die Touchpoints identifiziert und anbietet, die der Kunde erwartet. Das kann situativ sehr unterschiedlich sein und weicht von dem bisherigen Modell ab, wonach der Kunde einen der angebotenen Zugangswege aussuchen kann. KI stellt dabei sicher, dass die Prognose des Kundenverhaltens anhand seiner digitalen Bewegungsdaten immer genauer wird. 

Ein weiteres gutes Beispiel zeigt sich auf der Leistungsseite der Versicherer. Schadenprävention ist ja im Interesse von Versicherungsunternehmen und Versichertem. Wenn also neue digitale Leistungsangebote, wie zum Beispiel das Gesundheitsmanagement oder Smart Home – sprich der digital vernetzte Haushalt – zur Vermeidung oder zur Risikoreduzierung eingesetzt werden, dann gewinnen beide Seiten. Und auch hier dienen KI-Verfahren dazu, anhand individueller Daten in anonymisierter Form dynamische, das heißt sich stetig verbessernde Prognosemodelle zu entwickeln. 

VWheute: Stichwort Versicherungsbetrug: KI bietet derzeit entsprechende Anwendungsmöglichkeiten im Betrugs- und Schadenmanagement. Wie sehen diese konkret aus und welches Potenzial bietet die KI zur effektiven Betrugsbekämpfung?

Jan Philipp Giese: Betrugs- und Schadenmanagement ist ein extrem sensibles Thema. Fehleinschätzungen sind schnell in der Presse und können einen Imageschaden verursachen, der dann aufwendig und kostspielig aufgearbeitet werden muss. Betrugsabwehr beginnt daher am besten, bevor man eine Vertragsbeziehung mit einem Kunden eingeht. Das ist im Übrigen im Interesse aller Versicherten, denn dem Produkt Versicherung liegt ja das Kollektivprinzip zugrunde.

Daher rückt der Risikoprüfungsprozess im Rahmen der Antragsphase in den Vordergrund. Schon heute werden Scoring- und Profiling-Verfahren eingesetzt, um das Risikoprofil eines Antragsstellers um die zusätzliche Dimension „betrugsgefährdet“ erweitern zu können. Diverse Insurtechs haben gerade dieses Umfeld für sich entdeckt und bieten moderne digitale Betrugsabwehrmaßnahmen als Service an.

KI-basierte Betrugserkennung kann aber natürlich auch dann Mehrwerte bringen, wenn „das Kind schon in den Brunnen gefallen ist“, also der Schaden eingetreten ist. In der Kfz-Versicherung ermöglicht KI zum Beispiel durch Bilderkennung anhand vorliegender Fotos eines beschädigten Autos eine erste Indikation zur Schadenhöhe. Diese kann dann gegen die Kostenvoranschläge von Werkstätten oder das Schadengutachten gehalten werden. Der eigentliche Mehrwert entsteht im Erkennen von Mustern, das heißt wenn beispielsweise bestimmte Beteiligte regelmäßig oder wiederholt in Erscheinung treten. Das können Geschädigte, Werkstätten oder sogar Gutachter sein.

VWheute: Blicken wir einmal in die Zukunft: Welchen Einfluss wird KI in den kommenden Jahren aus Ihrer Sicht auf den Vertrieb und die Produktentwicklung haben? Gibt es Versicherungssparten, die dafür besonders prädestiniert sind? Und müssen Vermittler künftig fürchten, irgendwann durch eine KI-gesteuerte Beratung ersetzt zu werden?

Jan Philipp Giese: Ich persönlich glaube, dass man hier einen differenzierten Blick auf den Vertrieb werfen muss. Dass KI Einfluss auf den Vertrieb haben wird, ist aus meiner Sicht unstrittig. Wie bereits angedeutet, werden Mechanismen der künstlichen Intelligenz den Vertriebsprozess in der Zukunft viel stärker unterstützen als heute. Predictive Analytics kann zukünftig nicht nur zielgenau vorhersagen, welches Produkt in welcher genauen Ausgestaltung dem gerade gegenüberstehenden Kunden am besten zusagt. Auch die Ansprache – unabhängig davon, ob dies ein Vermittler oder eine Maschine – sagen wir ein Chatbot – ist, wird anhand von Next Best Action-Empfehlungen gelenkt, und zwar auf Basis der persönlichen Bewegungsdaten, die in Echtzeit erhoben werden. Das Ganze wird sich bei einfachen Produkten schneller durchsetzen als bei komplexen. Das ist eher spartenunabhängig. Daher bin ich der Auffassung, dass der Vermittler nicht so schnell ersetzt wird. Aber er wird sich selbst mit dem Einsatz dieser Methoden auseinandersetzen müssen. Er wird also vielmehr Teil eines zunehmend digitalisierten Kundendialogs. Der Trend eines abnehmenden Vermittlermarkts hat vielschichtige Ursachen und kann nicht allein mit dem Erstarken von KI in Verbindung gebracht werden.

VWheute: Künstliche Intelligenz gilt als große Zukunftstechnologie auch für die Versicherungsbranche. Wo sehen Sie aktuell die größten Anwendungsmöglichkeiten für Versicherer?

Insurtech oder klassischer Versicherer: Wer wird Ihrer Ansicht nach der bessere Player, um die Herausforderungen mit KI besser steuern zu können?

Jan Philipp Giese: Während meines kürzlichen Besuchs auf der DIA in Amsterdam – einer führenden internationalen InsurTech-Messe – habe ich wieder spannende und innovative Ideen zur Digitalisierung der Versicherungsbranche gesehen. Fast alle nutzen KI-Verfahren. Wirklich disruptiv sind allerdings die wenigstens dieser Start-ups. Oft haben sich übrigens bereits Allianzen zwischen „klassischen“ Versicherern und Start-ups gebildet und sie gehen auch gemeinsam in die Zukunft. Daher bin ich der Überzeugung, dass die Zukunft der Assekuranz in einem Ökosystem von Systemen liegt. Viele aktuellen Entwicklungen laufen darauf hinaus, dass sich ein System von Plattformen entwickelt. So könnte sich eine Plattform für den Maklervertrieb, eine Plattform für Mobilitätsabsicherungen, eine Plattform für Gesundheitsvorsorge und eine für die Gesundheitsprävention, eine für situative Versicherungsprodukte und eine für ganzheitliche Vorsorgekonzepte entwickeln.

Vieles deutet jedenfalls darauf hin, dass die aktuelle Veränderungsdynamik sowohl den etablierten Anbietern als auch neuen Playern große Chancen bietet. Es wird spannend sein zu sehen, wer sich in welchem Marktsegment durchsetzt. Letzten Endes werden das ohne Frage diejenigen sein, die Digitalisierungstechnologien wie Künstliche Intelligenz am besten zu nutzen wissen, ihre Mitarbeiter auf der Reise der Transformation umfassend begleiten und ihre Kunden gezielt bei ihren Bedürfnissen abholen.