Company first oder Customer first?

Bildquelle: Mohamed Hassan / Pixabay

Herausragende Customer Experiences? Die werden nicht von Service, Sales & Marketing erzeugt, sondern im gesamten Unternehmen. Der Kunde betrachtet eine Firma immer als Ganzheit. Von jedem in der Leistungskette erwartet er einen perfekten Job. Und im Idealfall darüber hinaus noch ein wenig Magie. Auch Versicherer können das schaffen. Ein Gastbeitrag von der preisgekrönten Bestsellerautorin Anne M. Schüller.

Eine weltweite Studie des IT-Dienstleisters Capgemini brachte zutage, dass 80 Prozent aller Manager glauben, in Sachen Kundenzentrierung gut dazustehen und die Bedürfnisse der Kunden zu kennen. Doch nur 15 Prozent der Kunden stimmen dem zu. Aus Kundensicht ist zudem ein Phänomen relevant, das als „Liquid Expectations“ bekannt ist. Es bedeutet: Nicht das Servicelevel, das in einer Branche üblich ist, sondern der beste Service, den ein Kunde je erlebt hat, wird seine zukünftige Messlatte sein. Will heißen: Das Servicelevel, das ein Kunde bei Firma X erhält, erwartet er nun von allen Unternehmen in allen Branchen. Weil Firma X ja bewiesen hat, dass es geht.

Kundenzentrierte Unternehmen liefern ihren Kunden an allen Touchpoints eine herausragende Erfahrung über die gesamte Customer Journey hinweg. Dem Kunden ist es nämlich egal, was hinter den Kulissen passiert, wer wofür zuständig ist, und warum es wo klemmt. Abteilungsgrenzen und Abstimmungsprobleme interessieren ihn nicht. Aus welchem Bereich eine Lösung kommt, ist ihm schnuppe. Hauptsache, sie funktioniert. Somit ist eine den Kundeninteressen dienende komplett crossfunktional synchronisierte Arbeitsorganisation heute ein Muss. Nicht länger die Ausrichtung am Wettbewerb und an internen Effizienzen, sondern das Kundenwohl steht an erster Stelle. „Customer first“ statt „Company first“ ist das Schlagwort dafür.

Während übliche Manager primär an die Konkurrenz, ihre Quartalsziele und die Kosten denken, suchen kundenzentrierte Anbieter gezielt nach Kundenproblemen und einer passenden Lösung dafür. Vom Kunden her denken nennen sie das. Digitaltechnologien beherrschen sie bestens. Sie organisieren sich nicht in Silos, sondern crossfunktional um Kundenprojekte herum – und im ständigen Dialog. Denn die Meinung der Kunden ist volatil. Zudem ändern sich ihre Vorlieben laufend. Innovieren heißt insofern auch, über die Nulllinie der Zufriedenheit hinaus Momente zu schaffen, die emotional und zwischenmenschlich berühren. Erwartung plus X ist das Stichwort dafür.

Funktionssilos sind organisationale Anomalien

Eine Customer Journey, die Kaufreise des Kunden, verläuft immer quer durch die gesamte Unternehmenslandschaft. Silo-Formationen passen da nicht. Sie stehen für Abschottung und Isolation. Sie verursachen Systembrüche, sodass die Dinge nicht störungsfrei fließen. Und sie erzeugen eine Mammutbürokratie, die Wertschöpfung verhindert. Interne Konkurrenzsituationen, unkoordinierte Planungsprozesse und falsch aufgesetzte Incentive-Programme verstärken diesen Effekt.

Zwar heißt es seit Jahren, dass Silo-Strukturen aus der Zeit gefallen sind und nicht mehr funktionieren. Doch (fast) niemand reißt die eigenen Silos konsequent ein. Stattdessen meckert man rum: „Diese Nerds“ in der Entwicklung verstehen die Kunden nicht. „Die Deppen“ im Marketing können bloß bunte Bildchen. „Die Luschen“ im Vertrieb vermasseln unsere Leads. „Die Nullen“ im Service sind solche Stümper, dass die Kunden gleich wieder flüchten. Indes gerät man dort in die Bredouille, weil der Vertrieb, dem die Quartalsziele im Nacken sitzen, unhaltbare Versprechen macht. Und den Customer-Care-Center-Agents bleibt die Luft weg vor lauter Beschwerden.

Eine „Die-da“-Kultur ist geradezu toxisch

Und was passiert, wenn eine andere Abteilung patzt? Das wird schwierig! In die Hoheitsgebiete anderer Bereiche greift man besser nicht ein. Gegenüber dem Kunden klingt das dann so: „Sorry, ist bei uns so vorgeschrieben.“ Oder so: „Tut mir leid, mir sind die Hände gebunden.“ Oder gar so: „In der Abteilung gibt es öfter Probleme.“ All das interessiert den Kunden nicht im Geringsten, doch man zwingt ihn, sich damit herumzuschlagen.

Statt aber die wahren Ursachen anzugehen und gemeinsam im Interesse des Kunden zu handeln, wird mehr vom Falschen getan: Weitere Regeln werden erlassen, noch mehr Verfahren werden standardisiert. Man meetet immer nur abteilungsintern und regt sich auf. Denn schuld sind natürlich die andern. Zuständigkeitswirrwarr, Insellösungen und Aufgabenfragmentierung sind in Silo-Organisationen völlig normal. Missverständnisse, Wissensverluste und ein irrer Abstimmungsaufwand sind üblich.

Ständig muss man intern warten, bis andere mit ihrer Zuarbeit fertig sind. Manches wird doppelt, anderes gar nicht erledigt. Einiges bleibt ewig liegen, das meiste wird in unterschiedlicher Qualität abgeliefert. All der Ärger führt zu Spannungen, zu Frust und Resignation. Niemand strengt sich groß an. Im Abarbeitungsmodus erledigen die Silo-Bewohner, was erledigt werden muss, nicht weniger, aber eben auch nicht mehr.

Prozess vor Kunde? Oder besser umgekehrt?

Silobasierte Strukturen und überholte Verfahrensweisen sind der größte Hemmschuh auf dem Weg zum begeisterten Kunden. Eine crossfunktional synchronisierte Zusammenarbeit ist unumgänglich. Und „Customer first“ wird zur Pflicht. Das ist doch völlig normal! Nein, ganz und gar nicht:

  • Company-first-Unternehmen agieren in alter Manier selbstzentriert so: „Was bieten wir dem Markt und den Kunden wann, wo und wie, damit wir noch erfolgreicher werden?“ Prozess- und effizienzgetrieben sollen sich die Kunden in die von den Anbietern vorgedachten Abläufe fügen, umständliche Formalien akzeptieren, mit begriffsstutzigen Chatbots parlieren und im Takt ihrer altersschwachen Software ticken. Heißt: Die Klientel soll ackern, damit man selbst nicht so viel Arbeit hat.
  • Customer-first-Unternehmen sind die Unternehmen der Zukunft, dort fragt man so: „Was will und braucht der Kunde, wie können wir ihn aktiv einbinden und ihm helfen, seine Lebensqualität zu verbessern oder seinen beruflichen/geschäftlichen Erfolg zu erhöhen?“ Wirklich kundenzentriert ist nur der, der sämtliche möglichen Ärgernisse vom Kunden zum Anbieter verschiebt, sodass aufseiten des Kunden nur noch positive Erlebnisse übrigbleiben. Denn wenn die Kunden nicht mehr kommen und kaufen, gibt es bald kein Unternehmen mehr.

So dreht sich in New-School-Unternehmen alles um die Kunden.

Customer Centricity: Old School vs. New School

Natürlich sind es nicht nur die jungen Start-ups, die ganz und gar Neues in die Welt bringen. Auch klassischen Unternehmen gelingt das durchaus. Insofern favorisiere ich eine Differenzierung zwischen Old School und New School, zwischen alten und neuen Vorgehensweisen, zwischen kundenfeindlichem und kundenfreundlichem Verhalten. Erst im direkten Vergleich sieht man die Unterschiede, habs kürzlich erst wieder erlebt:

  • Old School: Ich möchte meine Hausratversicherung aufstocken und rufe im Service Center an. Laaange Ansage vom Chatbot, doch er versteht mich nicht, will mich weiterverbinden. Noch längere Warteschleife. In solchen Fällen nimmt man sich besser erst mal nichts weiter vor. Endlich, ich werde begrüßt. Die Frau ist freundlich und kompetent. Sie sagt, sie schicke mir die notwendigen Unterlagen per Post. Nach drei Wochen ist noch immer nichts da. Hat man mich vergessen? Ist der Vorgang verloren gegangen? Ich will in Urlaub und hätte das gern vorher geregelt. Endlich kommt ein Papierberg von 20 Seiten. Ich sende den unterschriebenen Antrag – so knapp vor der Abreise will ich ganz sicher sein – per Einschreiben-Einwurf. Nach dem Urlaub: ein Formbrief. Die zurückgesandten Unterlagen seien nicht komplett. Was genau fehlt und wo ich das finde, steht nirgends. Also wieder telefonieren. … … … Aha: Es fehlt die erste Seite des Antrags, und die ist auf die Rückseite des Anschreibens gedruckt. Wer kommt denn auf sowas?! Klar soll man Rückseiten bedrucken, aber nicht dort, wo es niemand erwartet. Außerdem: Hätte man mir das nicht gleich schreiben können?! Also nochmal zur Post und – halleluja – kaum zwei Wochen später ist die Police endlich da. Und danach? Funkstille! Nichts Nützliches, nichts Unterhaltsames, rein gar nichts, was mich bindet. Die Monsterbürokratie im Versicherungsfall male ich mir lieber nicht aus.
  • New School: Eine Freundin will ihren Hund krankenversichern. Sie recherchiert im Web. Dort springt ihr ein Anbieter namens Lassie ins Auge, das spricht sie an. Kaum ist sie auf der Seite, wird sie von einem freundlichen, kompetenten Chatbot begrüßt. Zügig klärt sie mit ihm den passenden Tarif, und schon macht es pling, das Angebot ist per Mail da. In kaum fünf Minuten ist alles erledigt. Fortan kann sie sich online mit einem Pfotendoktor beraten, damit sie bei kleinen Wehwehchen nicht gleich zum Arzt laufen muss. Eine App bietet allerlei nützlichen Hunde-Content, Informatives, Unterhaltsames, Empfehlungen zur Ernährung, zur Pflege und zum Training des Tiers. Der Clou: Man kann sein zunehmendes Wissen testen und sammelt via Quizfragen spielerisch Punkte, die pro Jahr bis zu 50 Euro Rabatt auf die Versicherungsprämie einbringen können. Eine Win-win-win-Situation: Herrchen und Frauchen werden schlauer und gehen besser mit ihrem Hund um. Hierdurch ist der Hund weniger krank und die Versicherung hat weniger Kosten.

So kann man vierfach beim Kunden punkten

Die digital verwöhnten, immer anspruchsvolleren Kunden wollen von einem Anbieter genau vier Dinge:

  • Understand me! Mach es schnell, personalisiert, einfach, bequem und so digital wie möglich. Kannst du, weil du ja meine Daten hast.
  • Engage me! Kreiere die Kundenerfahrung so, dass ich möglichst wenig Aufwand habe und dich immer gerne wieder besuche.
  • Work for me! Liefere mir zeitnah, was ich brauche. Informiere mich proaktiv, wenn etwas anliegt. Mach dir Gedanken über Mehrwerte für mich.
  • Wow Me! Binde mich mit spannenden/nützlichen Aktivitäten an dich. Überrasche mich. Mach, dass ich es begeistert weitererzähle.

Das Ergebnis im Beispiel: Meine Versicherung erhält null Punkte, Lassie vier.

Anne M. Schüller ist Managementdenker, Keynote-Speaker, mehrfach preisgekrönte Bestsellerautorin und Businesscoach. Die Diplom-Betriebswirtin gilt als führende Expertin für das Touchpoint Management und eine kundenzentrierte Unternehmensführung. Ihr Touchpoint Institut bildet zertifizierte Touchpoint Manager und zertifizierte Orbit-Organisationsentwickler aus. www.anneschueller.de

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