Schicksalsjahre der Lebensversicherer: Eine Branche zwischen Prämienabrieb und Wachstumschancen

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Eigentlich könnten die Lebensversicherer optimistisch in die Zukunft blicken: Die Herausforderungen der Niedrigzinsjahre sind überwunden, die Covid-19-Pandemie führte zu einem gestiegenen Bewusstsein für biometrische Risiken, und der Bedarf an Altersvorsorge nimmt stetig zu. Die nüchterne Analyse der Prämienentwicklung und deren Implikationen zeigen allerdings, dass bereits der nächste Sturm über der Branche aufzieht. Auch wenn er nicht alle Marktteilnehmer gleich stark treffen wird, sollte jeder Lebensversicherer seine Situation analysieren und seine strategische Positionierung prüfen. Eine Analyse von Georg Henig, Partner bei Roland Berger.
Erheblicher realer Prämien- und Stückzahlenabrieb
Die Entwicklung von Prämien und BIP (Abb. 1) verläuft auf den ersten Blick von 2000 bis 2020 weitgehend parallel; jüngste Abweichungen ließen sich als Analogie zum Trend 2015 bis 2017 deuten. Bereinigt man jedoch die Entwicklung seit 2010 um den Verbraucherpreisindex (Abb. 2), zeigt sich ein deutlicher Substanzverlust bei den Lebensversicherern: Während das reale BIP von 2010 bis 2023 (Prognose) um 17 Prozent zulegt, schrumpft das reale Prämienvolumen um 22 Prozent. Dabei entspricht das reale Prämienvolumen 2020 etwa dem von 2010. Der starke reale Abrieb nach 2020 ist getrieben sowohl durch absoluten Prämienverlust als auch hohe Inflationsraten.

Das Gesamtprämienvolumen bildet den Blick auf die tatsächliche Lage zudem nur unvollständig ab: So liegt die Aufholjagd der Prämien gegenüber dem BIP zwischen 2015 und 2020 vor allem an den Einmalbeiträgen, die massiv anstiegen, weil sie im Niedrigzinsumfeld überdurchschnittlich attraktive Renditen boten. Im Jahr 2020 stammten so 38 Prozent der Gesamtprämien aus Einmalbeiträgen – 2023 dürfte der Wert auf 29 Prozent sinken. Dagegen sind die laufenden Prämien, die den Unternehmen jährlich wiederkehrende Einnahmen sichern, seit 2010 real fast konstant rückläufig, insgesamt um 20 Prozent.

Eine weitere Herausforderung ist, dass mit dem Renteneintritt der Babyboomer-Generation vermehrt Versicherungen ablaufen. Neben dem Prämienvolumen betrifft dies auch die Neugeschäftsbeiträge. Denn derzeit stammt rund ein Drittel des laufenden Neugeschäfts aus dynamischen Beitragserhöhungen, die bei Ablauf der zugrundeliegenden Versicherungen entfallen.
Mit steigenden Zinsen werfen auch andere Anlageformen wieder attraktive Renditen ab und machen so der Lebensversicherung Konkurrenz. Aktuelle Diskussionen in der Fokusgruppe private Altersvorsorge deuten darauf hin, dass alternative Anlageformen noch attraktiver gemacht werden sollen. Das erwartete Prämienvolumen gerät somit weiter unter Druck. Eine Stagnation oder sogar ein Rückgang des derzeitigen Einmalbeitragsvolumens ist zu erwarten.
Zudem werden die Kostenquoten der Versicherer schon lange kritisiert, unter anderem von Verbraucherschützern. Da die Branche ihre Kosten in den vergangenen Jahren nicht signifikant senken konnte, wirkt sich der beschriebene Prämienrückgang negativ auf die Betriebskostenquoten aus. Sollte keine Trendumkehr erfolgen, dürfte es den Versicherern schwerfallen, auf Dauer attraktive Produkte anzubieten.
Ausbruchschance durch steigenden Vorsorgebedarf
Trotz all dieser Herausforderungen gilt aber auch, dass die erforderliche Vorsorgequote in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen ist, weil viele Vermögenswerte inflationsbedingt real an Wert verloren haben. Angesichts dieser Situation ist zudem zu erwarten, dass der Gesetzgeber weitere Sparanreize setzt und die Altersvorsorge fördert, etwa durch steuerliche Vorteile oder eine Reform der betrieblichen Altersvorsorge. Daraus ergeben sich für die Lebensversicherer neue Wachstumschancen.
Fazit
Die beschriebenen Entwicklungen dürften sich auf die einzelnen Versicherer sehr unterschiedlich auswirken und sowohl Herausforderungen als auch Chancen beinhalten. Vor diesem Hintergrund empfehlen wir den Unternehmen, ihre Situation schonungslos zu analysieren, Marktschwankungen und regulatorische Unsicherheiten mithilfe von Szenarien zu berücksichtigen sowie eine Reihe von Fragen zu beantworten, wie: Welche Prämienentwicklung ist zu erwarten? Lässt sich ein anhaltender Prämienabrieb dauerhaft aushalten (unter anderem mit Blick auf die Lebensversicherung als Kostenträger sowie auf die Vertriebsteams)? Lassen sich Prämien kurzfristig stabilisieren? Welche klassischen „Inforce“-Maßnahmen bieten sich an, welche innovativen Hebel sind denkbar? Wie können langfristig neue, attraktive Angebote geschaffen werden? (Zum Beispiel mit Blick auf Endkundenrenditen oder als Kombi- oder Mehrwertprodukte aus den Bereichen Gesundheit oder Vermögen.) Welche Rolle spielt die betriebliche Altersvorsorge und welche Positionierung ist zielführend? Wie können Kundenzentrierung und Kundenzufriedenheit erreicht und gestärkt werden? Wie können Vertriebsprozesse auch bei einem komplexen Produkt wie der Lebensversicherung effizient gestaltet und die Vertriebspartner effektiv unterstützt werden? Welche Entwicklung der eigenen Kostenquote ist zu erwarten? Wie lässt sich diese konsequent senken?
Insgesamt bieten die Lebensversicherer mit ihrem Versprechen einer lebenslangen Rentenzahlung ein einzigartiges, nachhaltiges Produkt. Sie haben durch die nach der Zinswende erfolgte finanzielle Stärkung gute Voraussetzungen, die aktuellen Herausforderungen zu meistern, sich als wesentlicher Bestandteil der notwendigen sozioökonomischen Altersvorsorgelösung zu positionieren und somit tatsächlich optimistisch in die Zukunft zu blicken.
Autor: Georg Henig, Partner und Head of Life & Health Insurance EMEA bei Roland Berger