Warum sich die deutsche Wirtschaft in den kommenden Monaten warm anziehen muss

Viel Bewegung: Aktuelle Entwicklungen bei den Energiepreisen, die zeitweisen Unterbrechungen der Lieferketten, der Chipmangel und die Engpässe bei den Container- und Schiffskapazitäten wirbeln die wirtschaftlichen Prozesse ordentlich durcheinander. Bildquelle: Infineon

Die Pandemie hat die Welt aus ihren Angeln gehoben – in vielen Bereichen des Lebens. Noch immer greifen die umfangreichen staatlichen Unterstützungsmaßnahmen. Gleichzeitig wirbeln die Entwicklung bei den Energiepreisen, die zeitweisen Unterbrechungen der Lieferketten, der Chipmangel und die Engpässe bei den Container- und Schiffskapazitäten die wirtschaftlichen Prozesse ordentlich durcheinander, sodass Licht und Schatten sich hier abwechseln. Von Milo Bogaerts, CEO Euler Hermes.

Die deutsche Wirtschaft wird sich in den kommenden Monaten warm anziehen müssen. Wir erwarten eine Fortsetzung der herbstlichen Abkühlung – aber: keinen winterlichen Absturz wie im letzten Jahr. Neben den anhaltenden Lieferkettenengpässen dürfte die schwächelnde Nachfrage aus China die Industrie weiterhin ausbremsen. Auch der Dienstleistungssektor sollte angesichts steigender Infektionszahlen im Zuge der vierten Welle mit einer Nachfragedelle rechnen. Nach einem kräftigen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von rund zwei Prozent im dritten Quartal im Vergleich zum vorherigen Quartal, dürfte sich die Dynamik im Schlussquartal 2021 mehr als halbieren auf knapp ein Prozent.

Der gute Impffortschritt hat in den letzten Monaten für eine klare Entkoppelung von Neuinfektionen und Krankenhauseinweisungen bzw. Sterbefällen gesorgt, sodass wir aktuell nicht mit einem erneuten harten Lockdown rechnen. Allerdings ist das Risiko eines Déjà-vus für die deutsche Wirtschaft im Vergleich zu vielen Nachbarländern etwas erhöht, denn die hiesige Impfquote knapp über 65 Prozent ist im europäischen Vergleich eher unterdurchschnittlich. Die Genesung des deutschen Arbeitsmarkts dürfte sich über die Wintermonate zwar fortsetzen, aber klar an Fahrt verlieren. Dennoch dürfte bis Ende 2022 das Vorkrisenniveau bei der Arbeitslosigkeit wieder erreicht werden.

Unternehmensinsolvenzen: Fallzahlen rückläufig, aber Schäden verdoppelt

Auch bei den Unternehmensinsolvenzen zeigen sich Licht und Schatten: 2021 schreibt die Entwicklungen aus dem Vorjahr fort, und es dürfte einen weiteren Rückgang der globalen Insolvenzen um sechs Prozent und um etwa fünf Prozent in Deutschland geben. Das zeigt einmal mehr sehr deutlich: Die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen haben ihr Ziel erreicht, möglichst viele Insolvenzen zu verhindern. In Westeuropa haben die Maßnahmen jede zweite Pleite verhindert, in den USA jede Dritte. Die Verlängerung zahlreicher Programme hat die Insolvenzen im Jahr 2021 auf einem weiterhin niedrigen Niveau gehalten. Wie es weitergeht, hängt maßgeblich davon ab, wie die Regierungen in den kommenden Monaten handeln.

Ab 2022 dürfte sich das weltweite Insolvenzgeschehen allerdings wieder sukzessive normalisieren. Es zeichnet sich erstmals nach zwei Jahren ein Zuwachs der weltweiten Insolvenzen ab, um voraussichtlich 15 Prozent – allerdings von sehr niedrigem Niveau kommend. Im Durchschnitt liegen die Fallzahlen voraussichtlich weiterhin vier Prozent niedriger als 2019 – vor der Pandemie. Dennoch: Globale Exportrisiken steigen wieder. Auch Deutschland kann sich dieser Trendwende sehr wahrscheinlich nicht entziehen und Pleiten hierzulande dürften um neun Prozent zunehmen.

Diese Entwicklung dürfte sich vor allem im zweiten Halbjahr zeigen. Und: Es ist weiterhin ein sehr niedriges Niveau der Fallzahlen. Die erwarteten rund 16.300 Insolvenzen im kommenden Jahr entsprechen in etwa dem Stand im Jahr 1993. Die relativ gute Ausgangslage eines der größten staatlichen Unterstützungsprogramme und die wieder anziehende Weltwirtschaft haben deutschen Unternehmen eine gute Startposition verschafft, um sich auf die neue Normalität einzustellen. Eine Entwarnung für deutsche Unternehmen ist das allerdings nicht und sie sollten die Risiken im In- und Ausland nicht unterschätzen. Die Fallzahlen waren zuletzt zwar stetig rückläufig – die erwarteten durchschnittlichen Schäden pro Insolvenz für die betroffenen Unternehmen haben sich im ersten Halbjahr 2021 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum mehr als verdoppelt. Im 1. Halbjahr 2020 lagen die erwarteten Schäden pro Insolvenz durchschnittlich noch bei 1,8 Millionen Euro (Mio. Euro). Im gleichen Zeitraum im laufenden Jahr, lagen diese mit 4,3 Mio. Euro mehr als doppelt so hoch.

Fünf Indikatoren bestimmen die weitere Insolvenzentwicklung

Die neue Normalität bei den Insolvenzen birgt in allen Regionen weiterhin zahlreiche Risiken, die Unternehmen im Auge behalten sollten. Das Zusammenspiel von globaler und lokaler wirtschaftlicher Entwicklung und staatlicher Unterstützung spielen bei der weiteren Entwicklung der Insolvenzen weiterhin eine entscheidende Rolle ebenso wie die Dynamik beim „Cash-Burning“. Hinzu kommt das weiterhin bestehende Ausfallrisiko von Unternehmen, die bereits vor Covid-19 zu den Wackelkandidaten oder „Zombies“ zählten. Zudem hat die verschlechterte Finanzlage das Problem der Schuldentragfähigkeit verschärft.

Die rasche Erholung der Unternehmensgründungen ist zwar einerseits eine positive Nachricht, die aber auch eine Kehrseite der Medaille hat: Junge Unternehmen sind traditionell anfälliger für Insolvenzen. Zudem vergrößert diese Entwicklung die Basis für potenzielle Insolvenzen, insbesondere in Bereichen, in denen die Gründung von Unternehmen in hohem Maße mit in der Pandemie neu entstandenen Bedürfnissen zusammenhängt (z.B. Hauslieferungen) und bei denen die langfristige Tragfähigkeit des Geschäftsmodells unsicher ist.

Wo Licht ist, ist auch Schatten. Letztlich bleibt es spannend, aber trotz der Risiken bieten sich Unternehmen auch Chancen, die sie nutzen sollten, um gestärkt aus der Krise hervorzugehen.

Autor: Milo Bogaerts, CEO Euler Hermes in Deutschland, Österreich und der Schweiz