Industrieversicherung: „Man muss sich auch von Details verabschieden“

Karoline Polta. Quelle: Coco Gonser .

Alle reden von digitalen Versicherungsprodukten, ohne die das Geschäft bald nicht mehr läuft – aber was ist das überhaupt? Karoline Polta, Business Analystin im Insurance-Bereich bei mgm technology partners, erklärt im Exklusiv-Interview mit VWheute die Grundlagen und Folgen für den Vertrieb.

VWheute: Auch bei Industrieversicherern läuft längst nicht mehr alles analog oder per PDF-Dateien. Es gibt bereits digitale Produkte mit einem modernen Web-Frontend, die Prozesse wie Ausschreibung, Angebotserstellung, Policierung oder Schadenbearbeitung erfolgt aber weiterhin oft händisch. Was muss ein volldigitales Produkt haben und können?

Karoline Polta: Ein digital definiertes Produkt ist die Grundlage für alle Prozesse. Anders ausgedrückt: Ohne ein vollumfänglich digitales Produkt gibt es auch keine digitale End-to-End-Bearbeitung, idealerweise sogar in großen Teilen dunkel verarbeitet. Ein digitales Produkt definiert Deckungsmodell, Tarif- und Prämienberechnung, Bedingungswerke und Klauseln, Schadenmodell und alle damit verbundenen Prozessschritte. Und es gehören natürlich auch die üblichen Dokumente wie Angebote, Policen und Nachträge dazu.

VWheute: Diese Definition gilt aber ja auch für die jetzige, analoge Welt. Wo ist der Unterschied zu den heute genutzten Excel-Vorlagen oder Word-Templates?

Karoline Polta: Hier gibt es zwei wichtige Unterschiede. Die Bedingungen müssen standardisiert sein, und auch die Regeln müssen präzise formuliert sein, sodass sie auf der einen Seite automatisierbar sind und auf der anderen Seite trotzdem individuelle Eingriffsmöglichkeiten bieten. Es geht darum, Versicherungsprodukte und die damit verbundenen Prozesse geschickt in technische Einzelbausteine zu zerlegen. Das ist oft viel operative Fleißarbeit, bis zum Beispiel auch historisch gewachsene Klauseln standardisiert abgebildet sind. Diese fachliche Segmentierung und die technische Erfassung dieser Bausteine bilden dann aber das Fundament für automatisierte Prozesse.

VWheute: Was heißt das nun konkret, wenn kein Excel, Word und Co. dahinterliegen?

Karoline Polta: In unseren Projekten dekonstruieren spezialisierte Business Analysten dafür die Regelwerke zu Datenmodellen und Prozessen. Das beinhaltet alle Fragen, die ein Underwriter oder Schadenbearbeiter für die Bearbeitung des jeweiligen Prozesses stellen würde. Dafür standardisieren und strukturieren sie die notwendigen Informationen, setzen sie in abhängige Beziehungen zu Regeln und bauen entsprechende Validierungen ein.

Im Prinzip ist es einfach, im Detail allerdings sehr komplex. Vor allem bei Produkten mit sehr vielen Variablen wie Gebäude- oder Transportversicherungen. Aber letztlich sind Versicherungen sehr geeignete Objekte für die Digitalisierung, weil es – ganz vereinfacht ausgedrückt – immer Wenn-Dann-Entscheidung sind, die einfachste Operation für Softwarecode. Wenn Risiko X, dann Prämienanteil Y, und das addiert innerhalb eines Produkts.

VWheute: Was ist dabei erfahrungsgemäß die größte Herausforderung?

Karoline Polta: Die Kunst liegt im Zuschnitt der Modelle und Prozess: Wie stark kann die Komplexität eines Industrieversicherungsprojekts reduziert werden, wie können trotzdem die Individualitäten der Vertriebswege und Kundenrisiken abgebildet werden? Versicherer und Makler stehen diesem Thema traditionell sehr skeptisch gegenüber, häufig hören wir Aussagen wie „dieses Produkt kann man nicht standardisieren, geschweige denn digitalisieren“. Hier geht es aber gar nicht um ein Entweder-oder, sondern um das Finden des richtigen Maßes zwischen Standard und Individualität. Im besten Fall dann digital modelliert.

VWheute: So eine Digitalisierung klappt in kaum einer Branche aus eigener Kraft und nur mit eigenem Know-how. Was ist wichtig für eine gute Zusammenarbeit zwischen Versicherer und externen Experten?

Karoline Polta: Es muss natürlich eine Offenheit von beiden Seiten da sein. Für die Produktentstehung und für den am besten agil aufgesetzten Prozess. Denn in vielen Fällen werden die Vorstellungen der Versicherer und Makler während der Implementierung erst so richtig auf den Prüfstand gestellt. Wenn es Lücken gibt, muss man miteinander neue Lösungswege entwickeln. Und am Ende müssen dennoch alle Fälle und Ausnahmen klar definiert sein. Das ist ein fordernder Prozess.
Eine weitere zentrale Herausforderung der Digitalisierung, schon banal, überall gültig und nicht nur in der Industrieversicherung: Alle Beteiligte müssen sich auf Veränderungen einlassen. Man muss sich auch von Details verabschieden. Die Vorstellung, alles bleibt wie es ist, nur maximal digitalisiert und automatisiert, ist eine Illusion. Erfreulicherweise wissen das die meisten.

VWheute: Wie viel IT-Aufwand ist dafür notwendig?

Karoline Polta: Initial immer eine ganze Menge, das bringen die Digitalisierungsziele mit sich. Es gibt zwar verschiedene Entwicklungswege, wir sind aber von der modellbasierten Entwicklung mittels einer Low Code-Plattform als nachhaltigste Lösungen überzeugt. Denn diese Kombination ermöglicht es den Fachexperten auf Seiten von Versicherer oder Makler, selbst Änderungen vorzunehmen und die Produkte weiterzuentwickeln. Letztlich wie bei den guten alten Excel-Tabellen. Nur besser, denn mithilfe visueller Editoren lassen sich später nicht nur Prämienänderungen einpflegen, sondern auch neue Bedingungen, dafür notwendige Informationsabfragen oder Abhängigkeiten und Änderungen an den Dokumenten. Der klassische Weg wäre bei allen Änderungen ein mehr oder weniger großes Projekt mit IT-lern und Codern. Das taugt heutzutage aber nicht mehr, um schnell agieren und damit nah am Kunden sein zu können.

VWheute: Welche Anforderungen haben Kunden denn an ein digitales Produkt und inwieweit sollten Versicherer dem Rechnung tragen?

Karoline Polta: Die Ansprüche der Kunden hinsichtlich technischer Standards steigen. Nicht nur im Gewerbe-, auch im Industriebereich. Sie erwarten schlichtweg, dass Versicherer und Makler moderne, intuitiv zu bedienende Online-Schnittstellen zur Verfügung stellen. Auf diesen sollten sich dann mindestens Standardprozesse schnell abschließen und verwalten lassen, ohne lange Sitzungen und Gespräche mit Versicherern oder Maklern. Auch die jährlichen Risikofragenbögen dürfen gerne digital per Link und in einer vorausgefüllten Maske kommen, anstatt sie per Fax oder Post zurückzuschicken.

Kundenwünsche und -erwartungen ernst zu nehmen, ist selten verkehrt. Denn irgendwann werden die Hürden auch für den Wechsel von Industrieversicherungen sinken und die Kunden sind dann schnell bei anderen Anbietern, die genau diesen Komfort bieten. Deshalb ist es wichtig, frühzeitig neue Services zu entwickeln und in Netzwerken zu denken, die allen Beteiligten Vorteile bringen.

VWheute: Werden Produkte also künftig automatisch verstärkt digital direkt vertrieben?

Karoline Polta: Ja, auf jeden Fall. Zwar eher nicht die Eine-Millionen-Euro-Police, aber sobald ein Versicherungsprodukt digitalisiert ist und sich für den Direktvertrieb eignet, macht das viel Sinn. Informationen, Fragenformulare und Abschlussfunktionen lassen sich dann zum Beispiel auf der Versicherer- und Makler-Webseite einbinden, mit Risikoträgern zusammen anbieten oder auch in Marktplätze integrieren. Es zeigt sich ja bereits, dass eine markante Entwicklung aus dem B2C-Bereich adaptiert wird: Aggregation auf Vertriebsseite. Ein Beispiel dafür sind Vergleichsplattformen wie Finanzchef24 oder Thinksurance mit Gewerbeversicherung24, die zentral Policen von mehreren Assekuranzen anbieten.

VWheute: Viele sprechen von kontextuellen Versicherungsprodukten als nächsten Hype – ihre Meinung als digitaler Produktentwickler?

Karoline Polta: Das sehe ich ähnlich. Es ist aber kein nächster Hype, vielmehr der eigentliche Daseinszweck der Digitalisierung. Langfristig ist niemanden geholfen, wenn man analoge Produkte und Prozesse eins zu eins digitalisiert und sich dann wieder hinlegt. Dann geht es erst richtig los. Es ist wie im privaten Bereich, in dem wir etwa unsere Mobilität, das Einkaufsverhalten oder das Mediennutzungsverhalten kontextuell und situativ digital gestalten.

Für den Kunden in der Industrieversicherung ist es ebenso eine Qualitätsverbesserung, wenn er ein genau auf die Risikosituation zugeschnittenes Produkt im passenden Zeitraum bekommt. Wenn beispielsweise einmal situativ einige Deckungen in den Wordings nicht gebraucht werden, dort das Risiko selbst getragen werden kann, aber andere Risiken viel höher versichert sein sollen. Sind Risikoinformationen und die Risikodaten des Kunden in den Produkten gut strukturiert, werden solche situativen Einzeldeckungen möglich, in Zukunft auch volldigital aus den digitalen Produktionsprozessen der Industrie 4.0 getriggert: Warum sollten die digitalen Daten aus der Produktionssteuerung oder Logistik nicht direkt den optimalen Risikoschutz steuern?

Die Fragen stellte VWheute-Redakteur Maximilian Volz.