„80 Prozent der Industriesparte lassen sich digital abbilden“

Lassen sich Industriepolicen online verkaufen und welche Rolle spielt dabei Low Code? Marc Philipp Gösswein, Geschäftsleiter Industrieversicherungen bei mgm technology partners, klärt im Interview mit VWheute auf. „Der Industrieversicherungsbereich steht am Anfang der Digitalisierung, im Vergleich zu Privatversicherungen ist die gesamte Branche ein Nachzügler.“

VWheute: Im Bereich der Privatversicherungen gibt es mitunter eine starke digitale Dynamik. Wie digital ist die Industrieversicherung aktuell?

Marc Philipp Gösswein: Der Industrieversicherungsbereich steht am Anfang der Digitalisierung, im Vergleich zu Privatversicherungen ist die gesamte Branche ein Nachzügler. Es gab und gibt verschiedene Initiativen, mal für einen internen Effizienzgewinn, aber auch erste Ansätze für digitale Marktplätze und Plattformen im Gewerbebereich. Was bisher noch fehlt, sind integrative Ansätze, die Prozessketten ausgehend vom Kundenrisiko bis zum Vertrags-, Renewal- und Schadenmanagement integriert abbilden. Das meinen wir, wenn wir von Endezu-Ende-Digitalisierung sprechen. Der strategische Druck dazu baut sich bei Versicherern und Maklern erst langsam auf. Vordergründig sind geringe Stückzahlen oder der vermeintlich hohe Individualisierungsgrad der Policen Hinderungsgründe für weitergehende Digitalisierungsinitiativen.

VWheute: Was heißt das denn konkret, was ist zum Beispiel ein „digitales Industrieversicherungsprodukt“?

Marc Philipp Gösswein: Darüber lassen sich Vorträge halten. Ich versuche es aber kurz. Ein digitales Produkt bei Industrieversicherungen besteht aus einer digital definierten Spezifikation von Deckungsmodell, Risikofragen, Tarif und Prämie, Businessregeln etwa für Referrals und allen Druckstücken vom Angebot über Policen und Bedingungswerke bis zu Nachträgen. Das alleine ist bereits wegen der Vielzahl an Risikofaktoren, komplexen Deckungsmodellen und historisch eher erfahrungs- und/oder marktbasierten Prämien ungleich komplexer als bei Privatversicherungen. Außerdem muss der Kern eines digitalen Produkts ohne Interpretationsspielraum in Modellen, Formeln und Dokumenten hart definiert und standardisiert sein und dennoch gleichzeitig für jeden individuellen Kontext flexibel Anpassungen und Konfigurationen bieten.

VWheute: Es gibt immer wieder Stimmen, die sagen „Industrieversicherungsprodukte kann man nicht digitalisieren“. Die haben also unrecht?

Marc Philipp Gösswein: Muss man so sagen, ja. Unserer Einschätzung nach lassen sich 80 Prozent des Geschäfts digital abbilden. Dies gilt zum Beispiel auch für Industriesparten wie Transport- oder Sachgeschäft, internationale Programme und kundenindividuelle Abrechnungsmodelle. Und dabei muss wie gesagt stets eine kontextspezifische Individualisierbarkeit möglich sein. Digitalisierung ist also nicht gleich Standardisierung, sondern zunächst einmal die Strukturierung der geschäftsbezogenen Datenwelt, darauf können dann automatisierte Prozesse abgebildet werden. Als Preisgeld winken schnellere Abschlüsse und viel geringere Prozesskosten etwa bei Renewals und Umdeckungen über viele Jahre.

VWheute: Das klingt nach viel IT-Know-how, das notwendig ist. Sitzen dann also Entwickler neben den Underwritern und Experten in den Fachabteilungen?

Marc Philipp Gösswein: Jein. Die Kompetenz, in digitalen Produkten und Prozessen zu denken und dies auch umsetzen zu können, wird zukünftig eine begehrte Schlüsselqualifikation sein. Denn wer, wenn nicht die Versicherungsexpertinnen und -experten in Fachabteilungen kennen die Bedarfe, Produktdetails und Marktveränderungen am besten? Mit geeigneten Werkzeugen können sie einen guten Teil der Digitalisierung und kontinuierlichen Weiterentwicklung selbst gestalten. Software mit Low-Code-Konzepten bietet den Fachbereichen diese Möglichkeiten, ohne programmieren zu müssen. So können Underwriter und Experten selbst zu Gestaltern ihrer digitalen Arbeitsgrundlage werden.

VWheute: Das klingt nicht unbedingt danach, dass alle Underwriter und Makler, die seit 20, 30 oder mehr Jahren ihre Geschäfte pflegen, in Begeisterung ausbrechen.

Marc Philipp Gösswein: Das stimmt. Fachbereiche werden ja schon immer bei der Einführung von Fachsystemen in der Versicherung hinzugezogen. Entwickler programmieren dann aber nach ihrem eigenen Verständnis, und am Ende passt der Plan nicht mehr zur Wirklichkeit. Das erzeugt Frust nicht nur bei den Underwritern. Erfolgreiche Veränderungsprozesse sind früher wie heute dadurch gekennzeichnet, dass es gelingt, Begeisterung und Gemeinsamkeit zu erzeugen. Dann entstehen Teams, in dem nicht nur interne Abteilungen, sondern auch externe Partner zusammenarbeiten. In diesem Zusammenhang machen wir sehr gute Erfahrung mit Partnerschaftsmodellen, statt klassisch in Make-or-Buy-Kategorien zu denken.

VWheute: Gibt es denn in den aktuellen Rahmenbedingungen der Industrieversicherungsbranche bereits Low-CodeProdukte, oder ist der Ansatz noch zu neu?

Marc Philipp Gösswein: Die gibt es, ja. Wir haben bereits einige Produktsparten und Geschäftsprozesse von Industrieversicherern und Maklern digitalisiert. Bei einer großen Makler-Gruppe holen wir nach und nach alle Sparten und Prozesse mit Kunden, Partnern und Versicherern auf eine gemeinsame Plattform. Aus unserer Sicht gibt es schon einen Trend hin zu Low-CodePlattformen. Bei unseren Kunden sehen wir beispielsweise Technologien von Pega oder Microsoft. Im Vergleich zum Gesamtgeschäftsvolumen ist es in Summe aber sicher noch ein sehr kleiner Teil.

VWheute: Einige Experten bezweifeln die Vereinfachung bei der Entwicklung und die möglichen Kosteneinsparungen. Wenn es ein ideales Tool ist, müssten ja alle das nutzen.

Marc Philipp Gösswein: Da es bislang kein reales, voll digitales End-to-End-Geschäft im Industriebereich gibt, kann die finale Rechnung noch nicht aufgemacht werden. Es gibt allerdings durchaus Einschätzungen zur notwendigen Innovation der Branche, die von vielen Protagonisten geteilt werden: Wir können nicht weiterhin 1.000-Euro-Angebote von Hand schreiben, wir sollten diese noch nicht mal durch menschliche Underwriter rechnen lassen. Wir brauchen ein neues Produktverständnis auch in internationalem Kontext.

Und schließlich müssen wir im Sinne unserer Endkunden, die selber digitalisieren, das Thema Versicherung kundenorientierter definieren. Die situative Versicherung, insbesondere solche mit einer digitalen Integration in Kundenwertschöpfungsketten, ist hier eines von vielen Beispielen. Für mich heißt das, der gedankliche Nährboden ist in vielen Unternehmen bestellt und es ist die spannendste Zeit in der Industrieversicherung in den letzten 15 Jahren. Für viele dieser Themen gilt es nun, der Fachseite direkt die IT-Tools an die Hand zu geben, um ihr Geschäft auch in der digitalen Welt selber zu beherrschen. Das ist digitale Souveränität.

VWheute: Was bleibt, wenn alle Produkte digitalisiert sind?

Marc Philipp Gösswein: Der Kern der Industrieversicherung ist es Unternehmen vor bestimmten, womöglich ruinösen Risiken zu schützen. Bisher wurde dieses Geschäft manuell und individuell und in enger Abstimmung zwischen Versicherern, Maklern und Kunden betrieben. Auf die Produktdigitalisierung als strukturierendes Kernelement muss unseres Erachtens die Kommunikation zwischen den Beteiligten angegangen werden. Dazu gehören hochkommunikative Prozesse wie Ausschreibungen, Portfoliotransfers, Renewals oder die Schadenabwicklung über die Unternehmensgrenzen hinweg.

VWheute: Diese Plattform-Diskussion wird immer wieder geführt, es gab und gibt ja bereits Lösungen. Durchgesetzt hat sich bislang aber nichts in Ansätzen, oder?

Marc Philipp Gösswein: Wohl war. Wichtig ist meines Erachtens, dass Versicherer und Makler auf Geschäftsleitungs- oder Vorstandsebene ein gemeinsames Verständnis entwickeln, welche Bedeutung Digitalisierung haben soll. Digitalisierung ist kein IT-Projekt, sondern zukünftige Geschäftsgrundlage. Deshalb finde ich es auch spannend zu sehen, dass wieder darüber nachgedacht wird, IT-nahe Funktionen an die Sparten anzudocken. Insgesamt bin ich optimistisch, denn die richtigen Gedanken sind da und sie sind in den meisten Häusern ähnlich. Besonders beeindruckt war ich, als ein CEO eines deutschen Versicherers in einem gemeinsamen Workshop seine digitale Zielarchitektur für das Industriegeschäft nicht nur aufmalen, sondern auch erklären konnte. Wahnsinn, wer hätte so etwas vor zehn Jahren für möglich gehalten.

Interview: David Gorr

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