Bain-Analyse: Warum es jetzt fatal wäre, die digitale Transformation aus Budgetgründen zu verlangsamen

Gerd Altmann auf Pixabay

Versicherer können Kunden, Agenturen und Mitarbeiter in der Pandemie nachhaltig unterstützen. Das zeigen die bisherigen Erfahrungen aus China und Italien. Doch was können die deutschen Versicherungskonzerne daraus lernen?

Deutschlands Versicherer sind in den Krisenmodus gewechselt. Schritt für Schritt verlegen die Unternehmen ihren Innendienst ins Homeoffice und stellen die Kommunikation auf digitale Medien um. Tatsache ist: In einer solchen Ausnahmesituation den Überblick zu bewahren und die Prioritäten richtig zu setzen, ist eine enorme Herausforderung.

Ein Blick ins Ausland kann helfen, diese zu meistern. Insbesondere chinesische und italienische Versicherer agieren bereits seit Wochen im Corona-Krisenmodus. Als die dortigen Anbieter begannen, auf die aufkommende Pandemie zu reagieren, standen drei Themen im Fokus: klassisches Krisenmanagement, Schutz von Mitarbeitern, Agenten und Kunden sowie gesellschaftliches Engagement.

Stresstest für die IT

In Pandemiezeiten sollte in jedem Unternehmen zunächst die Sensibilisierung und der Schutz der eigenen Belegschaft oberste Priorität haben. Sinnvoll ist die Einrichtung eines Krisenmanagementteams, das alle Aktivitäten koordiniert und schnelle Entscheidungen trifft. Bei chinesischen und italienischen Anbietern entstanden beispielsweise binnen kurzer Zeit klare Vorgaben für das Verhalten im Alltag.

Zugleich begann die Verlagerung von Aktivitäten ins Homeoffice, wie dies inzwischen auch in Deutschland der Fall ist. Die Vorsichtsmaßnahmen sollten ebenso Vertriebsniederlassungen und Agenturen erfassen. Es gilt genau zu überlegen, wo es möglich ist, persönliche Gespräche durch digitale Kommunikation zu ersetzen. Mit Minimalvorgaben für den Vertrieb können Versicherer versuchen, einen Stillstand des Geschäfts zu vermeiden.

Der neue Arbeitsmodus ist ein Stresstest für jede IT. Es braucht eine robuste Infrastruktur und eine ausgereifte Cybersecurity, damit die Beschäftigten von jedem Standort aus auf alle Daten zugreifen können und dürfen. Ein funktionsfähiges Intranet gewährleistet nun die gemeinsame Informationsbasis. Dies funktioniert allerdings nur bei einer entsprechenden technischen Ausstattung.

Mögliche Defizite lassen sich zwar nur selten innerhalb weniger Tage beheben. Doch sie sollten Mahnung sein, die in den meisten Häusern laufende IT-Modernisierung weiter entschlossen voranzutreiben. Es wäre fatal, nun die digitale Transformation aus Budgetgründen zu verlangsamen. Die aktuelle Krise macht mehr als deutlich, wie wichtig digitale Prozesse und Kanäle für ein modernes Versicherungsgeschäft sind.

Breit angelegte Krisenkommunikation

Digitale Kanäle sind in Pandemiezeiten Garant für den fortlaufenden Informationsaustausch mit den maßgeblichen Stakeholdern. Die Erfahrungen speziell aus Italien zeigen, dass Mitarbeiter gerade jetzt eine ehrliche und offene Kommunikation honorieren – und das gilt noch mehr, wenn sich Kollegen in Quarantäne befinden oder erkrankt sind. Die Kunden wissen es zudem zu schätzen, wenn sie mit aktuellen Informationen versorgt werden und mühelos erfahren, wie sie am besten mit ihrer Versicherung in Kontakt treten können und welche Agentur wann unter welchen Bedingungen zu erreichen ist.

Generell sollten Versicherer sich in ihre Kunden hineinversetzen und ihnen passgenaue Hilfe anbieten. Anbieter in China wie in Italien stellten ihnen beispielsweise einfache Tests zur Selbsteinschätzung des Infektionsrisikos zur Verfügung, listeten Fragen und Antworten zur Krankheit auf und lieferten Hinweise zu Anlaufstellen in der Region. Hilfreich ist zudem eine 24/7-Hotline, die sämtliche dann noch offenen Fragen klären kann.

Agenten gezielt unterstützen

Die selbstständigen Agenturen stehen vor ganz anderen Herausforderungen. Für sie geht es darum, ihre wirtschaftliche Existenz zu sichern, wenn das Neugeschäft einbricht. Ebenso wichtig ist es, die Services für ihre Kunden aufrechtzuerhalten, wenn die Belegschaft im Homeoffice ist. Jeder Versicherer sollte überlegen, ob und wie er seinen Vertriebspartnern finanziell, aber auch mit Rat und Tat unter die Arme greifen kann.

Zum einen gilt es bei Agenturen, die stark vom Neugeschäft abhängig sind, Liquiditätsengpässe partnerschaftlich und pragmatisch zu überbrücken. Zum anderen ist eine koordinierte und offene Kommunikation in die Fläche notwendig. Darüber hinaus können Versicherer ihren Agenturen helfen, neue Herausforderungen zu bewältigen. Dazu gehört beispielswiese die Unterstützung bei der Inbound-Telefonie oder bei administrativen Aufgaben.

Bei aller Sorge um den eigenen Betrieb dürfen Versicherer die öffentlichen Belange nicht aus den Augen verlieren. Chinesische und italienische Anbieter engagierten sich und spendeten beispielsweise an Forschungseinrichtungen und Krankenhäuser. Zum Teil legten sie selbst Krisenfonds auf und öffneten diese für Spenden ihrer Belegschaft.

Aus Kundensicht denken

Aber wann hat was Priorität? Hier ist ebenfalls ein Blick nach China und Italien hilfreich. Bevor der Peak und damit die höchsten Infektionszahlen erreicht sind, geht es vor allem darum, den Sorgen der Kunden vor allem auf digitalen Kanälen mit entsprechenden Informationen zu begegnen.

Intern sind alle nötigen Vorkehrungen für den Höhepunkt der Pandemie zu treffen. Entscheidend ist eine Kategorisierung der Aktivitäten: Was ist verzichtbar? Was lässt sich in Homeoffices verlagern? Und wo ist ein Notbetrieb erforderlich? Ein schlankes, aus wenigen Kennzahlen bestehendes Steuerungssystem kann helfen, in den herausfordernden Wochen den Überblick über den Istzustand des operativen Geschäfts zu behalten.

Nachdem sich die Krise im Lauf der zweiten Märzhälfte in Deutschland immer weiter zugespitzt hat, kommt spätestens jetzt die Zeit für das Umschalten auf den Krisenmodus. Der Innendienst wechselt weitgehend komplett ins Homeoffice, der Außendienst stellt seine persönlichen Kontakte auf (Video-)Telefonie und digitale Kanäle um. Nun heißt es vor allem, im Sinne der Kunden zu denken und zu handeln.

Kleinere und mittlere Betriebe beispielsweise laufen Gefahr, binnen kurzer Zeit an ihre Liquiditätsgrenzen zu kommen. Hier könnten entsprechend positionierte Versicherer stillgelegten Betrieben in besonders betroffenen Branchen und Regionen die Prämien stunden.

Auch bei Privatkunden ist nun Flexibilität gefragt. Prämienstundungen beispielsweise in Quarantänesituationen sind ebenso denkbar wie verlängerte Zahlungslinien. All das funktioniert allerdings nur, wenn der Vertrieb seine Kunden kennt und konsequent den Kontakt hält. Doch genau das ist der Kern eines zeitgemäßen Krisenmanagements.

Die Stunde der digitalen Vertriebstools

Die Agenturen werden in dieser Situation ebenfalls einen engen Schulterschluss zu schätzen wissen. Die Versicherungen sollten sie darin unterstützen, digitale Prozesse zu etablieren und über digitale Kanäle mit ihren Kunden zu kommunizieren. Für den häufig analog arbeitenden Vertrieb ist dies eine Herausforderung und Chance zugleich – je besser der Einsatz digitaler Tools jetzt funktioniert, desto wahrscheinlicher ist, dass sich Agenturen daran gewöhnen.

Fakt ist: Deutschlands Versicherer stehen wie Unternehmen anderer Branchen und die gesamte Bevölkerung vor nie dagewesenen Herausforderungen. Sie können aber durch vorausschauendes, engagiertes Handeln ihren Beitrag dazu leisten, dass ihre Kunden, ihre Mitarbeiter und ihr Vertrieb gut durch die Krise kommen.

Autoren: Christian Kinder ist Partner bei Bain & Company in München und leitet die Praxisgruppe Versicherungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ingo Janisch ist Principal bei Bain & Company in München und Mitglied der Praxisgruppe Versicherungen.

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