Polnischer Tech-Experte über deutsche Branche: „Wir waren überrascht über den technologischen Rückstand der Versicherer“

Bei vielen Versicherern arbeiten die IT- und die Fachabteilung nebeneinander her, kritisiert Michal Trochimczuk. Das habe zur Folge, dass man an den Kündenbedürfnissen vorbeiagiert. Im Interview mit VWheute spricht der Managing Partner von Sollers Consulting vor dem heutigen Meeting „Digitalization in Insurance“ in Köln über digitale Ökosysteme, IT-Landschaften und das nächste große Ding der Branche.

VWheute: Beginnen wir mit den Basics, was ist ein Digitales Ökosystem (dÖS) und warum ist es so wichtig bei der Digitalisierung?

Michal Trochimczuk: Der Begriff wurde Mitte der 1990er Jahre erstmals aus der Biologie auf die Wirtschaft übertragen. Orchestratoren digitaler Ökosysteme bieten Plattformen an, auf denen Unternehmen aus verschiedenen Branchen unterschiedliche Services und Produkte anbieten. Vorreiter waren und sind bis heute die großen Digitalkonzerne. Im Versicherungsgeschäft hat bislang nur die chinesische Ping An Erfolge mit dem Aufbau von Ökosystemen. Doch die Erfolge sind so groß, dass sie viele andere Unternehmen aufgeweckt haben.

Wo sehen Die die Probleme bei den digitalen Ökosystemen, was ist beispielsweise, wenn ein Bestandteil herausfällt?

Wenn Bestandteile innerhalb eines Ökosystems herausfallen, dann können sie in der Regel schnell ersetzt werden. Das wichtigste Problem der Ökosystemwirtschaft ist der Trend hin zur Monopolisierung. Die Erfahrung nach zwanzig Jahren Internetwirtschaft zeigt uns, dass es definitiv ein Winner-takes-it-all Syndrom gibt. Sich der Macht der großen Ökosystemanbieter zu widersetzen oder sie schlicht zu ignorieren, ist nicht unbedingt zielführend. Wichtig ist es, innerhalb bestehender Ökosysteme eine möglichst aktive Rolle einzunehmen, um nicht zum austauschbaren Lieferanten zu werden. Ziel muss es sein, sich quasi unersetzbar zu machen.

Wie verhindert man in einem Ökosystem, das aus den Partnern nicht Gegenspieler werden und sich mit negativen Folgen für das System bekämpfen?

Digitale Ökosysteme zeichnen sich durch große Komplexität und Dynamik aus. Im Zusammenspiel der Unternehmen überwiegt die Kooperation. Dennoch kann es zu Wettbewerbssituationen kommen. Diese sind ja generell auch nicht unerwünscht. Die Erschaffer digitaler Ökosysteme haben eine fast absolute Verfügungsgewalt. Als Orchestratoren können sie die Spielregeln mehr oder weniger stark auf Wettbewerb ausrichten, oder eben auf Kooperation. Wenn es zu Situationen mit negativen Folgen kommt, kann so relativ problemlos korrigiert werden.

Welche Rolle kann Sollers in einem Ökosystem eines Versicherers spielen und wie gehen die Unternehmen mit den Möglichkeiten um?

Sollers Consulting unterstützt Versicherer bei der Digitalisierung. Gemeinsam mit unseren Kunden modernisieren wir sowohl das Back-end als auch das Front-end. Wenn ein Versicherer an der Ökosystemwirtschaft partizipieren oder sogar selbst ein eigenes Ökosystem aufbauen will, dann ist größtmögliche Flexibilität in der IT gefragt. Es geht dabei um offene Schnittstellen, um sich in die Lage zu versetzen, heterogene Daten zu verarbeiten. Schnittstellen spielen in unseren derzeitigen Projekten deshalb eine wichtige Rolle.

Sollers schreibt, dass Technologie und Geschäftsmodell verschmelzen müssen. Das ist mir zu abstrakt. Können Sie das an einem – oder mehreren – Beispielen erklären. 

Bei vielen Versicherern arbeiten die IT- und die Fachabteilung nebeneinander her.  Diese Silo-Strukturen haben dazu geführt, dass die IT-Landschaft sehr komplex ist, oft geht sie an den Kundenbedürfnissen vorbei. Meiner Meinung nach muss die technologische Seite beim Geschäftsmodell immer gleich mit einbezogen werden. Unsere Erfahrung zeigt, dass die Kooperation zwischen Business und IT in einer agilen Organisation mit gemischten Teams und ohne starre Hierachien besonders erfolgreich ist.

Sie arbeiten mit vielen deutschen Versicherern zusammen, plaudern Sie einmal aus dem Nähkästchen, was sind die größten Probleme und Stärken bei der Digitalisierung und wo dachten Sie: „Das kann nicht wahr sein?“

Als wir vor sechs Jahren nach Deutschland kamen, waren wir überrascht über den technologischen Rückstand der Versicherer. Das größte Problem ist meiner Meinung nach der mangelnde Mut, die überalterten IT-Strukturen abzulösen. Das Problem ruft inzwischen sogar die Bafin auf den Plan. Noch heute setzen viele Versicherer auf Eigenentwicklung und wollen das weiter ausbauen. Die große Frage bei dieser Strategie lautet, ob das eigene Unternehmen mit dem Tempo der technologischen Entwicklung mithalten kann. Wer ist schneller, die Technologiekonzerne oder die IT-Abteilungen der Versicherer? Dieser Frage sollte man sich stellen. Wir stehen meiner Meinung nach erst am Anfang der Technisierung des Versicherungsgeschäfts.

Sie sind Experte, daher die Frage: Was ist die nächste große technische Entwicklung in der Versicherungswirtschaft.

Die Dinge, über die wir derzeit reden, werden sich entwickeln und es wird eine Reihe weiterer Innovationen geben, die für die Versicherungsbranche Bedeutung haben. Das Internet der Dinge ist eine davon. Für die Versicherer wird es jetzt aber erst einmal darum gehen, die bei ihnen bereits vorhandenen Daten besser zu nutzen. Wir erwarten deshalb, dass die Versicherer ihre Aktivitäten im Bereich Data Analytics und Künstliche Intelligenz intensivieren werden. Beim Einsatz von Datentools werden sich die Versicherer vor allem auf die Angebotserstellung fokussieren: Wie schaffe ich es, meinem Kunden das passende Angebot zum passenden Zeitpunkt zu erstellen? Aber auch in der Schadenbearbeitung stehen die Versicherer bei der Nutzung des vorhandenen Potenzials erst am Anfang. Für die Versicherungsbranche sind deshalb Data Analytics und Künstliche Intelligenz das nächste große Ding.

Die Frage stellte Maximilian Volz