Groß geworden, klein geblieben – Gedanken im Dezember

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Dass „der kleine Mann“ groß werden, sprich, dass er sein wirtschaftliches Fundament verbreitern, seinen Bildungsgrad erhöhen und seine gesellschaftliche Verankerung festigen würde, war in Ländern wie Deutschland seit langem absehbar. Doch die Erwartung oder zumindest Hoffnung, dass mit diesem Großwerden auch ein Erwachsenwerden einhergehen werde, soll heißen, dass die Bereitschaft zunehmen werde, für sich, andere und das Gemeinwesen vorausschauend und verantwortungsvoll zu handeln, wurde weitgehend enttäuscht. Mitunter scheint sich sogar eine gegenläufige Entwicklung Bahn gebrochen zu haben.

So nimmt der Ruf nach starker Führung sei es in der Politik, der Wirtschaft oder sonstigen Lebensbereichen eher zu als ab. Das ist in einer Gesellschaft, die vor noch gar nicht so langer Zeit mehr Demokratie wagen wollte, paradox. Mehr Demokratie hätte nämlich auch geheißen, für mehr einzustehen und mit den breiter werdenden Schultern größere Lasten zu tragen. Gewiss, das Steueraufkommen und auch die Sozialabgaben können sich sehen lassen. Aber die Übernahme größerer gesellschaftlicher Verantwortung ist das noch nicht. Da sitzen die groß gewordenen kleinen Männer und Frauen breiter denn je in der Proszeniumsloge und betrachten das politische Spektakel.

Der nahe liegende Einwand: Finden sich nicht immer häufiger viele Bürger zusammen, um ihre Meinung kund zu tun und Forderungen zu erheben? Das stimmt. Aber diese Aktivitäten wären eindrucksvoller, wenn der Anteil realistischer Ziele größer wäre. Doch meist geht es um ein schlichtes Mehr, mehr Kindergartenplätze, Lehrer oder Polizisten und vor allem mehr Geld für alles und jeden. Der Adressat dieser wohlfeilen Forderungen bleibt dabei zumeist im Dunkeln. Aus gutem Grund. Denn es sind in aller Regel genau dieselben, die diese Forderungen erheben, aber gar nicht daran denken, für ihre Erfüllung aufzukommen.

Erwachsene verhalten sich anders. Sie suchen nicht die umfassende Für- und Vorsorge des Staates und seinen Schutz in allen Lebenslagen. Vielmehr erfüllt es sie mit Befriedigung, ihre Geschicke möglichst in die eigenen Hände zu nehmen und ihr Schicksal zu gestalten. Davon ist zwar viel die Rede, nur wirklich umgesetzt wird wenig.

Das zeigt sich schon im Kleinen. Natürlich könnten die meisten heute ihre Beiträge an die Sozialversicherungsträger eigenständig abführen oder sich um ihre berufliche Weiterbildung kümmern. Das aber ist ihnen zu mühsam. Das soll wie vor vielen Jahrzehnten der Arbeitgeber oder besser noch der Staat regeln. Und wenn ein windiger Reiseveranstalter sie auf einer fernen Insel stranden lässt, kommt ihnen ebenfalls rasch Vater Staat in den Sinn, der seine Kinder eiligst heimholen möge.

Verantwortungsvolles Handeln. Dieses wohl hervorstechendste Merkmal Erwachsener ist für viele auf enge Bereiche begrenzt und selbst da lückenhaft. Verantwortung für den Partner, die Partnerin, die Kinder, die Eltern? Nur wenn dies nicht den eigenen Lebenszuschnitt spürbar einschränkt. Noch nie hat das Gemeinwesen solche Summen für die Versorgung von Kindern oder hilfsbedürftigen Eltern aufgebracht, aufbringen müssen. Doch so zu handeln, hält eine zunehmende Zahl von Menschen für angemessen und vertretbar.

Und für angemessen und vertretbar hält sie auch, aus schierem Eigennutz die Lebensgrundlagen aller zu zerstören. Wohl gilt auch hier: Über Verantwortung zu reden steht hoch im Kurs. Verantwortungsvolles Handeln lässt hingegen zu wünschen übrig. Die Folgen des eigenen Tuns kritisch zu überdenken und sich entsprechend zu verhalten ist die Sache der breiten Mehrheit nicht. Wie zu Zeiten, als sie arm, wenig gebildet und oft wurzellos war, beschränkt sie sich auf den engsten, überschaubarsten Lebensbereich.

Beim Großwerden des kleinen Mannes scheint etwas gründlich schief gelaufen zu sein. Wie manche Eltern nicht erkennen, dass ihre Kinder erwachsen geworden sind und das Hotel Mama nicht nur verlassen können, sondern zum Vorteil aller auch verlassen müssen, so hat „Vater Staat“ viel zu lange an einer Vormundschaft festgehalten, dem das Mündel längst entwachsen ist. Das ist tragisch. Die Menschen könnten nämlich andere, erwachsenere Leben leben. Das aber haben sie nur unzulänglich gelernt.

Autor: Meinhard Miegel