Experience One-Managerin Luise Hübbe: „Bei manchen Start-ups ist der Nutzer ein nachträglicher Einfall bei der Erstellung des Business-Plans“

Luise Hübbe. Chief Strategy Officer bei Experience One. Quelle: One

Praxisbericht statt Wortschimären. Weshalb inflationärer Bot-Einsatz keine freudvolle Nutzererfahrung ist, wie jedes Bit psychologischen Bedürfnissen dient und weswegen eine „Kernpersona“ Userzufriedenheit sicherstellt, erklärt Luise Hübbe, Chief Strategy Officer bei Experience One. Versicherer aufgepasst, Amazon ist nicht der Prüfstein jedes Digitalprozesses.  

VWheute: Jeder Versicherer will die User Experience verbessern – es ist mittlerweile eine Floskel. Kann das überhaupt übergreifend gelingen, es gibt ja nicht „den Kunden“?

Luise Hübbe: Sehr gute Beobachtung – vor der gleichen Herausforderung stehen wir gerade mit unserem neuen Kunden AOK, dessen Mitglieder buchstäblich den Querschnitt ganz Deutschlands bilden.

In der Tat gibt es übergreifende, zielgruppenunabhängige Regeln, um eine User Experience nutzerfreundlich zu gestalten. Dazu zählen etwa Konsistenz in den Design-Prinzipien, eine intuitiv erschließbare Struktur, Barrierefreiheit oder „informelles Feedback“, durch das der Nutzer sich in Prozessen orientieren kann.

Auf der anderen Seite gibt es recht universelle Erkenntnisse aus der Wahrnehmungs- und Entscheidungspsychologie: Wenn wir Nutzer unterstützen wollen, komplexe Entscheidungen zu treffen, sollte wir diese in mehrere Stufen gliedern und in den ersten Stufen nur wenige Auswahlmöglichkeiten geben. Wenn wir möchten, dass ein User eine Experience als angenehm in Erinnerung behält, gilt es, ein besonders positives Erlebnis am Ende der Journey zu gestalten.

Allerdings lassen sich hiermit allein noch keine optimalen Ergebnisse erzielen. Daher hat es sich in den letzten Jahren durchgesetzt, die Bedürfnisse verschiedener Nutzertypen in Form von Personas abzubilden. Dies führt oft zu einer Vielzahl an Personas, individueller Journey-Maps und sich teilweise widersprechender Empfehlungen. Daher sind wir dazu übergegangen, eine Kernpersona zu definieren, die am meisten Einfluss auf den Erfolg der Website hat, und auf die wir daher fokussieren. Wenn wir uns an dieser ausrichten, haben wir einen klaren Orientierungspunkt, um die wirksamsten Maßnahmen abzuleiten. Mit dieser Strategie der Fokussierung lassen sich sinnvolle Priorisierungen vornehmen und messbare Erfolge bei den relevantesten Nutzergruppen erzielen.

VWheute: Nennen Sie bitte die wesentlichen Bestandteile eines guten Nutzererlebnisses.

Luise Hübbe: Für ein gutes Nutzererlebnis sind Nützlichkeit und Bedienbarkeit des Produkts oder Systems die Grundvoraussetzungen. Nutzer kommen mit einer bestimmten Aufgabe auf das Produkt zu und wollen diese möglichst effizient und effektiv erledigen. Mit der richtigen Usability ist der Grundstein für ein gutes Erlebnis gelegt. Unser Anspruch ist es jedoch, für die wesentlichsten Nutzerbedürfnisse nicht nur gute, sondern herausragende Erlebnisse zu schaffen. Deswegen zielen wir auch auf eine für Nutzer bedeutungsvolle, freudvolle und wertschaffende Experience.

VWheute: Sie beobachten ja den Markt, wie bewerten Sie die Bemühungen der Versicherungsbranche in dem Bereich?

Luise Hübbe: Vor allem divers: Während manche Versicherer sehr offensichtlich gute Fortschritte machen in Sachen User Experience, sind andere digitale Angebote, sagen wir mal … noch ausbaufähig. Dies gilt übrigens sowohl für die Alteingesessenen wie auch die Start-ups, bei denen man manches Mal den Eindruck hat, dass der Nutzer ein nachträglicher Einfall bei der Erstellung des Business-Plans war.

Wir dürfen die Angebote aber natürlich nicht einfach direkt miteinander vergleichen, da sich die Unternehmen hinsichtlich „Altlasten“, Nutzerstruktur, aber auch Unternehmensstrategie deutlich unterscheiden. So ist für unseren Kunden AOK der Wert „Nähe“ zentral, weswegen sie weiterhin Filialen in ganz Deutschland unterhalten. Eine gute UX muss für die AOK daher auch eine gute „Brückenleistung“ erbringen. Also ist es hier ein wichtiges Ziel, denjenigen Versicherten, die den direkten Austausch mit ihrem Berater suchen, online alle nötigen Informationen so einfach wie möglich zugänglich zu machen und dafür zu sorgen, dass die Plattform das Gespräch optimal vorbereitet und gegebenenfalls auch ergänzt.

VWheute: Ein privater Versicherer hat wenige junge, viele Mittelalte und am meisten ältere Kunden im Bestand und fragt sie bei der User Experience um Rat und Tat. Wie gehen Sie vor?

Luise Hübbe: Bevor wir uns den Nutzergruppen widmen, verschaffen wir uns zunächst ein ganzheitliches Bild, indem wir die Strategie, den Zweck der Website und das Selbstverständnis des Versicherers ergründen. Wir eruieren, welche Rolle die Website im gesamten Ökosystem spielen soll: Liegt der Fokus auf dem Vertragsabschluss, da die Aufmerksamkeit in anderen Medien, die Überzeugungsarbeit zum Beispiel auf Testportalen generiert wird? Das erfordert einen anderen Ansatz als bei einem Versicherer, der es als seine Rolle versteht, auf seiner Plattform auch viel zu informieren und zu Gesundheitsthemen zu beraten.

Wenn wir dann wissen, was die digitalen Angebote leisten sollen, entwickeln wir ein Verständnis für die unterschiedlichen Nutzergruppen und deren ‑bedürfnisse. Hierfür erheben wir qualitative Daten und führen in einem fachbereichsübergreifenden Customer Experience Mapping Workshop mit allen relevanten Stakeholdern Erkenntnisse und Daten zusammen.

Um weiter zu priorisieren, welche Maßnahmen die größtmögliche Wirkung beim Nutzer erzielen und damit das höchste Potenzial für eine positive User Experience versprechen, nutzen wir neben der Kernpersona unser Tool der „Schlüsselepisoden“. Damit leiten wir ab, welche Bedürfnisse für die Nutzer ausschlaggebend sind und daher unbedingt optimal erfüllt werden sollten. Auf diese zentralen Bedürfnisse der Kernpersona fokussieren wir, um schnell und sichtbar Verbesserungen für Nutzer zu liefern. Damit signalisieren wir und der Versicherer: „Hier tut sich etwas. Wir verstehen dich und deine Bedürfnisse.“

Auf diese Weise arbeiten wir uns voran und erzielen den größten Effekt für die User Experience, statt uns mit Nebensächlichkeiten aufzuhalten. Gleichzeitig vermeiden wir dadurch den Fehler, bloße Hypes zu bearbeiten, wie wir dies bei einigen Websites immer wieder beobachten können. Vor einigen Jahren war da zum Beispiel der inflationäre Einsatz von Chatbots bei unausgereifter Datenstruktur für die Antworten oder ein VR-Boom ohne echten Mehrwert für Kunden.

VWheute: Mit den kommenden Generationen werden die digitalen Angebote marktbeherrschend sein, lautet eine These. Sollte ein Versicherer rein auf die Generation Z und Folgende zielen, sind dadurch Insurtechs ohne Kundenaltlasten im Vorteil?

Luise Hübbe: Die Tatsache, dass eine Generation mit der Nutzung digitaler Produkte und Services aufgewachsen ist, heißt noch nicht, dass sie in keiner Situation eine menschliche Interaktion wünscht. Wir haben gerade eine Studie durchgeführt, die deutlich zeigt, dass es verschiedene Bedürfnisse gibt, die sich – egal, welcher Generation man angehört – besser oder nur im Kontakt mit einem realen Gegenüber erfüllen lassen.

In Zukunft werden diejenigen Unternehmen die erfolgreichsten sein, die zum einen verstehen und analysieren lernen, wo welche Art der Interaktion benötigt wird, und zum anderen die digitalen Mittel optimal einsetzen, um Kundenbedürfnisse zu bedienen. Auf diese Art lassen sichganz unterschiedliche Produkte und Services designen, die alle eine hohe Relevanz haben und somit nachgefragt werden.

VWheute: In welche Richtung wird sich die User Experience bewegen, was sind die Trends?

Luise Hübbe: Die Erwartungen der Nutzer an digitale Erlebnisse steigen. Dabei wird keine Rücksicht auf Branchen oder Medientypen genommen. Das heißt, Versicherungen müssen über den Industrie-Tellerrand hinausblicken und sich an den besten Experiences insgesamt orientieren. Am sinnvollsten ist es, den Vergleich mit Produkten oder Interaktionen zu suchen, die Nutzer mit den gleichen Grundbedürfnissen oder mit ähnlichen Aufgaben helfen – beispielsweise herausragende Vorbilder im Bereich beratungsintensiver Produkte und Services. Diese Grundbedürfnisorientierung verhindert, dass Amazon als Goldstandard für jedes Design eines Transaktionsprozesses herhält. Im Versicherungsbereich hat oft das Bedürfnis nach Sicherheit eine größere Bedeutung als beim Online-Shopping. Dies sollte sich auch in der Interaktion widerspiegeln.

Die Fragen stellte VWheute-Redakteur Maximilian Volz.

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