Der Aufstieg der VVaGs
Die Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit strotzen nur so vor Kraft. In Deutschland nähert sich ihr Marktanteil aktuell der 50-Prozent-Marke. In Europa zeichnen die Unternehmen mehr als ein Drittel aller Policen. 2020 lag ihr Marktanteil auf dem alten Kontinent bei 33,4 Prozent und entsprach Prämieneinnahmen von satten 469 Mrd. Euro. 2011 lagen die Versicherungsprämien noch 116,5 Mrd. Euro darunter. Analyse eines fulminanten Aufstiegs.
2011 lagen die Prämieneinnahmen noch bei 352,5 Mrd. Euro. Amice beziffert den Anteil auf 29,7 Prozent an den gesamten in Europa abgeschlossenen Versicherungen. Im Zehnjahreszeitraum 2010 bis 2020 verbuchten die Anbieter einen Anstieg des Gesamtprämienvolumens von 32,1 Prozent, heißt es im aktuellen European Mutual Market Share 2022. Im Sachgeschäft war das Prämienwachstum mit 38,9 Prozent noch höher. Im Vergleich dazu stieg das Volumen auf dem europäischen Versicherungsmarkt insgesamt um 14,3 Prozent, davon 6,8 Prozent in Leben und 27,8 Prozent in Sach.
Zwischen 2019 und 2020 haben die Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit ihren Anteil an mehreren lokalen Versicherungsmärkten erhöht, insbesondere in Frankreich (5,1 Prozent) und Schweden (5,0 Prozent). Der Marktanteil des Sektors liegt in den Niederlanden bei über 60 Prozent, in Frankreich bei knapp 60 Prozent und in Österreich, der Slowakei, Dänemark und Schweden bei über 50 Prozent. In Finnland und Deutschland nähert er sich der 50-Prozent-Marke.
Urform des Versicherns
Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit gelten als Urform heutiger Versicherungsgesellschaften. Bereits im Mittelalter schlossen sich Kaufleute bzw. Bauern zu sogenannten Schutz- oder Brandgilden zusammen, um sich gemeinsam gegen Überfälle, Brandschäden oder Viehverluste abzusichern und gegenseitig zu helfen. Grundgedanke war das Einstehen füreinander nach der Maxime: „Einer für alle – alle für einen“.
Das ist bis heute – vereinfacht ausgedrückt – auch das Grundprinzip der Versicherung: Viele zahlen in einen Topf. Wer einen Schaden hat, erhält aus diesem Topf eine finanzielle Entschädigung oder Leistung, um den Schaden wieder zu beheben. Die Rechtsform des Versicherungsvereins unterstreicht genau diesen Gegenseitigkeitsgedanken: Ziel eines VVaGs ist es, seinen Mitgliedern bestmöglichen Schutz zu günstigen Konditionen zu bieten. Zudem sind Versicherte die Mitglieder des Versicherungsvereins und damit gleichzeitig seine Eigentümer. Sie entscheiden etwa über die Führung des Unternehmens. Darüber hinaus gibt es keine Geldgeber außerhalb des Vereins, die Ansprüche auf den Gewinn stellen könnten. Überschüsse bleiben im Unternehmen bzw. kommen den Mitgliedern zugute.
In Deutschland kann das Versicherungsgeschäft nur in der Rechtsform des Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit, der Aktiengesellschaft oder der Anstalt bzw. Körperschaft des öffentlichen Rechts betrieben werden. Aktuell agieren 243 Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, 272 Versicherungs-Aktiengesellschaften und acht öffentlich-rechtliche Versicherungen am Markt.
Stabiler als der Rest
„2020 verzeichneten die Versicherer auf Gegenseitigkeit/Genossenschaft einen wesentlich geringeren Rückgang der Gesamtprämieneinnahmen (minus 1,6 Prozent) im Vergleich zu dem erheblichen Rückgang der Versicherungsprämien auf dem gesamten europäischen Versicherungsmarkt (minus 6,7 Prozent)“, beobachtet Amice-Verbandschef Grzegorz Buczkowski. Der Experte lobt das Versicherungsmodell auf Gegenseitigkeit/Genossenschaft für seine Vielfalt, aber auch für seine Stabilität.
Tatsächlich musste der europäische Versicherungsmarkt zu Beginn der Pandemie 2020 ein negatives Wachstum des Prämienvolumens gegenüber dem Vorjahr verzeichnen – das erste Mal seit 2016, dass in Europa ein Rückgang des jährlichen Prämienniveaus gemeldet wurde. Er setzte sich zusammen aus einem Minus von 10,6 Prozent im Lebengeschäft und einem knappen Wachstum von plus 0,3 Prozent im Sachgeschäft. Die Gegenseitigkeit konnte sich dem Marktrückgang zwar nicht ganz entziehen, schnitt laut Amice im Vergleich dazu allerdings positiver ab und übertraf das jährliche Prämienwachstum des gesamten europäischen Versicherungsmarktes in den Bereichen Leben und Nichtleben um 5,1, 3,1 bzw. 3,1 Prozentpunkte.
Niederlande mit höchster VVaG-Durchdringung
2020 verbuchten die Gegenseitigkeitsversicherer zusammen 469 Mrd. Euro an Versicherungsprämien. Dies entspricht zwar einem negativen jährlichen Wachstum von –1,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr (2019: 476 Mrd. EUR). Langfristig schneiden die VVaGs jedoch überdurchschnittlich ab. Das Fünfjahreswachstum lag bei 11,3 Prozent, das Zehnjahreswachstum bei 32,1 Prozent.
Der Gegenseitigkeitssektor hat den gesamten Versicherungsmarkt Europas laut Amice-Angaben stets übertroffen. In sechs der letzten sieben Jahre übertraf das jährliche Wachstum des Gegenseitigkeitsmarktes den Gesamtmarkt immer. Der Markt blickt zwischen 2010 und 2020 auf acht Jahre mit einer positiven Prämienentwicklung zurück.
„Der kollektive Anteil der Gegenseitigkeitsversicherer am europäischen Markt im Jahr 2020 erreichte einen Rekordwert von 33,4 Prozent (2019: 31,8 Prozent), was einem Anstieg um 9,2 Prozentpunkte gegenüber dem Wert von 24,2 Prozent im Jahr 2007 entspricht. Auf Gegenseitigkeitsversicherungen entfiel 2020 mehr als ein Viertel der 13 nationalen Versicherungsmärkte und mehr als 40 Prozent des Marktes in vier der zehn größten europäischen Märkte, darunter drei der fünf größten europäischen Märkte (Deutschland, Frankreich und die Niederlande). Die Niederlande (60,2 Prozent) hatten im Jahr 2020 die höchste Marktdurchdringung bei Versicherungen auf Gegenseitigkeit“, heißt es im Amice-Bericht.
Knackpunkt Leben
Das Lebensversicherungsgeschäft trug 2020 laut den Untersuchungen am meisten zum Gesamtrückgang des Prämienvolumens bei. Der gesamte europäische Lebensversicherungsmarkt schrumpfte um minus 10,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dies war auch auf globaler Ebene zu beobachten, wo Lebensversicherer weltweit zum ersten Mal seit 2015 eine Schwächephase zu spüren bekamen.
Die Lebensversicherer auf Gegenseitigkeit ihrerseits mussten Rückgänge des Prämienvolumens um 7,5 Prozent auf 200 Mrd. Euro (2019: 216 Mrd. Euro) hinnehmen. Diese im Vergleich zum gesamten Markt niedrigeren Zahlen führten dazu, dass der Anteil der europäischen Gegenseitigkeitsversicherer am gesamten europäischen Lebensversicherungsmarkt auf ein Rekordhoch von 25,7 Prozent anstieg. Das waren gegenüber 2007 mit 17,2 Prozent 8,5 Prozentpunkte mehr.
Im Sachgeschäft verzeichneten Europas Versicherer einen Anstieg des Prämienvolumens um 0,3 Prozent. Das Nicht-Leben-Geschäft der Gegenseitigkeitsversicherer stieg um 3,4 Prozent auf 268 Mrd. Euro im Jahr (2019: 260 Mrd. Euro) und setzte den seit 2007 anhaltenden Anstieg fort. Dies führte zu einem Marktanteil von 42,8 Prozent im Jahr 2020, ein Anstieg um 7 Prozentpunkte gegenüber 35,8 Prozent im Jahr 2007.
Autor: Michael Stanczyk
Ich finde es gut, dass dieses Thema nicht hinter einer Bezahlschranke verschwindet – es macht doch richtig Hoffnung! Ich erinnere mich noch gut daran, wie vor noch nicht allzu langer Zeit die VVaGs als absolut veraltet galten, ohne jedes Zukunftspotenzial. Und jetzt könnten sie es sein, die das Versicherungsprinzip wieder aktivieren und damit der Branche zu einer Zukunft verhelfen!