Universitätsprofessor Hato Schmeiser: „Es ist un­möglich, eine rein privatwirtschaftlich organisierte Pandemieversicherung zu realisie­ren“

Hato Schmeiser. Quelle: Universität St.Gallen (HSG), Institut für Versicherungswirtschaft

Wie lassen sich weltweite Pandemien für die Versicherungswirtschaft beherrschbar machen? Und was bedeutet eine Pandemieversicherung für die Branche? Antworten darauf hat Hato Schmeiser von der Universität St. Gallen im exklusiven Gespräch mit VWheute.

VWheute: „Zum jetzigen Zeitpunkt fehlen klare Anzeichen, dass die Unternehmen eine Pandemieversicherung in dieser Art wollen. Besonders das Obligato­rium stößt auf Ablehnung“, teilte der Schweizer Bundesrat kürzlich mit. Ist das Projekt vom Tisch?

Hato Schmeiser: Hierzu ein abschließendes Urteil zu fällen, erscheint mir ver­früht. Aktuell befinden wir uns noch mitten in der Covid-19-Pandemie. Deshalb liegt der Fokus vor allem auf dem momentanen Krisenmanagement und nicht auf Maß­nahmen, die dabei helfen, die finanziellen Risiken in Verbindung mit zukünftigen Pan­demien bestmöglich zu managen.

Nach dem Ende der Covid-19-Pandemie wird die politische Diskussion darum, wie unsere Gesellschaft langfristig besser vor den finanziellen Konsequenzen von Pande­mien geschützt werden kann, mit Sicherheit an Fahrt aufnehmen. Inwiefern eine Pan­demieversicherung dabei Teil eines gesamtgesellschaftlichen Schutzkonzepts sein wird, wird sich schlussendlich im politischen Wettbewerb entscheiden. Für diesen bie­tet der Schlussbericht der Arbeitsgruppe „Pandemieversicherung“ eine sehr gute Grundlage. Er zeigt unter anderem auf, welche Organisationsformen für eine Versi­cherungslösung geeignet erscheinen und an welchen Stellen rechtlicher Klärungsbe­darf besteht. Außerdem wird aufgezeigt, wie Entschädigungszahlungen möglichst schnell und effizient ausbezahlt werden können – dies liefert unabhängig von der Re­alisierung einer Pandemieversicherung einen wertvollen Beitrag zur politischen De­batte.

Generell ist keine Eile geboten. Es ist viel wichtiger, Argumente für und gegen eine Pandemieversicherung sowie ihre mögliche Einrahmung in ein Gesamtrisikokonzept breit und ausführlich zu diskutieren. Dies benötigt Zeit.

VWheute: In Deutschland geht es auch nicht voran. Wo liegen die Probleme bei den Versicherern, bei nicht ausreichendem Risiko-Management, fehlender Kal­kulierbarkeit oder falschen Gewinnvorstellungen? – genügend Daten sollten ja nun vorliegen.

Hato Schmeiser: Laut Schätzungen werden die gesamtgesellschaftlichen Kosten der Covid-19-Pandemie allein in Deutschland zwischen 255 und 495 Mrd. Euro betragen. Bei solch einer Schadendimension und dem Kumulrisiko von Pandemierisiken, ist es un­möglich, eine rein privatwirtschaftlich organisierte Pandemieversicherung zu realisie­ren. Da sind sich die Assekuranz und die Wissenschaft einig. Nur mit staatlicher Be­teiligung kann eine Pandemieversicherung realisiert werden. Somit hängt die Reali­sierung einer Versicherungslösung wie in der Schweiz von politischen Mehrheiten ab. Eine mögliche Lösung muss dabei zusammen mit anderen staatlichen Risikomanage­mentmaßnahmen ein konsistentes Gesamtkonzept ergeben. Hier bin ich mir sicher, dass die Assekuranz ihr Know-how im Risikomanagement und in der Schadenab­wicklung einbringen wird.

VWheute: Welchen Spielraum haben die Versicherer bei einer Lösung?

Hato Schmeiser: Sollte eine Pandemieversicherung realisiert werden, wird der Löwenanteil möglicher Schadenzahlungen sehr wahrscheinlich beim Staat liegen. Die Versicherer werden vor allem für die Bestimmung angemessener Prämien sowie das operative Management der Versicherung benötigt. Angesichts der staatlichen Beteiligung wird der Spielraum der Versicherer bei der Prämiengestaltung sehr wahrscheinlich gesetz­lich eingeschränkt. So kann unter anderem vorgeschrieben werden, ob eine Versiche­rung obligatorisch ist und inwiefern eine Umverteilung zwischen verschiedenen Risi­kogruppen stattfindet.

VWheute: Welche Rolle spielen Rückversicherer bei einer Lösung, frech gefragt, sind Erstversicherer überhaupt nötig?

Hato Schmeiser: Meines Erachtens haben sowohl Erst- als auch Rückversicherer eine sehr relevante Value-Proposition in diesem Zusammenhang. Rückversicherer können größere Risiken leichter tragen und diversifizieren, verfügen aber über keine Mitarbei­tenden, die vor Ort den Vertrieb und die Schadenregulierung übernehmen können. Zudem ist die globale Diversifikation als Kernleistung der Rückversicherer im Falle der Covid-19-Pandemie eingeschränkt. Hier sind Erstversicherer mit ihrem bestehen­den Netz an Vertriebs- und Schadenexperten klar im Vorteil. Und auch deren Risiko­tragfähigkeit darf nicht unterschätzt werden. Am Ende wird es bei einer privat-staat­lichen Lösung auf ein Zusammenspiel beider hinauslaufen. Die Rollen müssen aller­dings klar definiert werden und hängen vom jeweils gewünschten Versicherungsmo­dell ab.

VWheute: Ein Vorschlag lautet, die Privaten versichern bis Summe X und kalkulieren entsprechend Beiträge, alles darüber hinaus leistet der Staat. Was spricht gegen dieses Modell?

Hato Schmeiser: Eine solche Lösung hat gewisse Probleme: In jeder Form von Pandemie­versicherung wird die Schadenregulierung sehr wahrscheinlich durch die Versicherer organisiert. Bei der beschriebenen Versicherungslösung kann dabei ein Anreizprob­lem bei der Prüfung von Entschädigungszahlungen entstehen, die die Summe X über­schreiten, weil Versicherer die zusätzlich entstehenden Kosten nicht mittragen müs­sen. Diesem Problem kann aber durch eine Mitversicherungsregelung über dem Trig­gerpunkt X entgegengetreten werden. Weiterhin besteht ein Problem darin, dass die Prämien nicht risikoadäquat sind, da der Staat für seine Risikoübernahmen nicht ent­schädigt wird. Dabei wird der Versicherungsnehmer durch den Steuerzahler quersub­ventioniert und Unternehmen internalisieren die potenziellen Kosten einer Pandemie nicht vollständig.

Nach seiner Promotion im Jahr 1997 trat Hato Schmeiser in die ERC Frankona Reinsurance in München ein, wo er bis 1999 als Senior Analyst tätig war. Im Jahr 2003 habilitierte er an der Humboldt-Universität Berlin und wurde anschließend als Professor an die Universität Münster (Lehrstuhl für Versicherungsmanagement) berufen. Seit 2005 hat er den Lehrstuhl für Risikomanagement und Versicherung inne und ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Versicherungswirtschaft (I.VW-HSG) an der Universität St. Gallen. Seine Forschung wurde von der American Risk and Insurance Association (2005 und 2008), der Casualty Actuarial Society (2009), dem Emerald Literati Network (2013 und 2018) und dem Journal of Insurance Issues (2014) ausgezeichnet.

VWheute: Wenn Sie die Versicherungsbranche in der Frage beraten wür­den, was würden sie vorschlagen?

Hato Schmeiser: Nimmt man an, dass eine privat-staatliche Versicherungspoollösung präfe­riert wird, würde ich folgende Aspekte hervorheben: Zur Vermeidung von morali­schem Risiko ist es notwendig, keine vollständige Leistung des Staates ab einem be­stimmten „Triggerpoint“ vorzusehen, sondern eine Mitversicherung mit quotaler Auf­teilung zwischen Staat und privater Versicherungsindustrie zu installieren, bis eine ex-ante definierte maximale Haftungsgrenze des Pools erreicht wird.

Außerdem ist die Definition eines gemeinsamem „Triggerpoints“ problematisch, da der Staat durch die Beteiligung der privaten Assekuranz Anreize besitzt, einen Lock­down frühzeitig und schon bei geringer Risikolage auszulösen. Es lohnt sich daher, über für Staat und Versicherungsindustrie unterschiedliche „Triggerpoints“ nachzu­denken, auch wenn dies zu einem Basisrisiko für den Versicherungsnehmer führt.

VWheute: Skizzieren Sie doch bitte einmal einen Rahmen, wie eine Lö­sung aussehen könnte?

Hato Schmeiser: Ich möchte an dieser Stelle keine eindeutige Empfehlung abgeben. Meiner Meinung nach erscheinen die Organisationsformen, die im Schlussbericht der Arbeits­gruppe „Pandemieversicherung“ des Schweizer Bundesrats aufgezeigt werden, am sinnvollsten. Diese sehen privat-staatliche Lösungen vor, die entweder als Schaden- oder als Kapitalpool organisiert sind. Auf die Vor- und Nachteile der beschriebenen Lösungen einzugehen, würde den Rahmen dieses Interviews sprengen. Deswegen empfehle ich interessierten Lesern Kapitel 7 des genannten Schlussberichts, in dem mögliche Lösungen mit entsprechenden Vor- und Nachteilen präsentiert werden.

Versicherungswirtschaft: Was spricht gegen Ihren Vorschlag, aus Versicherer- und Staatsseite gesehen.

Hato Schmeiser: Diese Frage erübrigt sich, da ich in der vorherigen Frage keine eindeutige Empfehlung abgegeben habe.

VWheute: Würden Sie nationale oder europaweite Lösungen präferieren – sowohl für die Schweiz wie auch für die EU-Länder?

Hato Schmeiser: Beide Lösungen haben sowohl Vor- als auch Nachteile. Für eine nationale Lösung spricht, dass der Infektionsschutz relativ einheitlich geregelt ist – auch wenn einzelne Gebietskörperschaften (z. B. Kantone und Bundesländer) in einem vordefi­nierten Rahmen unterschiedlich handeln können. Nachteile bestehen darin, dass eine gewissen geografische Diversifikation nur beschränkt möglich ist und die Abhängig­keit von Infektionsschutzstrategien anderer Länder nur schwer in den entsprechenden Versicherungsvertrag integriert werden kann.

Für eine europäische Lösung spricht, dass bei kleineren Pandemien Schäden besser geografisch diversifiziert werden. Problematisch sind die inhomogenen Rechtslagen in Bezug auf den Infektionsschutz, was das Definieren von passenden „Trigger“-Punkten erschwert. Außerdem muss eine mögliche Versicherungslösung nicht nur die Solidarität zwischen verschiedenen Wirtschaftsbranchen, sondern auch zwischen den Mitgliedsstaaten regeln. Hier politische Lösungen zu finden, ist auf jeden Fall an­spruchsvoll.

Das haben nicht zuletzt die Diskussionen um das EU-Corona-Hilfspaket gezeigt. Angesichts der oben beschriebenen Herausforderungen multinationaler Lösungen er­scheinen mir kurzfristig nationale Pandemielösungen am realistischsten. Gelingt es al­lerdings, die beschriebenen Probleme in Verbindungen mit einer europaweiten Lö­sung mittel- bis langfristig erfolgreich anzugehen, sollte man eine solche Lösung for­cieren.

Die Fragen stellte VWheute-Redakteur Maximilian Volz.