„Nicht alles, was technisch bei KI möglich ist, ist auch sinnvoll“

Als daten- und wissensbasierte Disziplin ist die Versicherungsbranche prädestiniert für den Einsatz von KI. (Quelle: Comfreak / Pixabay)

Auch wenn in der Assekuranz bislang moderne KI-Anwendungen noch nicht umfassend etabliert sind, so werden ihnen wertsteigernde Veränderungspotenziale entlang der gesamten Wertschöpfungskette zugeschrieben. Nicht alles davon ist aber rechtlich zulässig oder wird vom Kunden gewünscht. Eine Fachanalyse zum Innovationswettbewerb am Beispiel der Künstlichen Intelligenz von Prof. Dr. Michaele Völler, Leiterin der Forschungsstelle Versicherungsmarkt am ivw Köln der TH Köln.

Seit jeher wird Innovation als zentraler Bestandteil der Wettbewerbsfähigkeit und des Erfolges von Unternehmen angesehen (vgl. etwa Schumpeter 1912). Nach der viel zitierten Definition von Tidd und Bessant (2020) ist „Innovation (…) a process of turning opportunity into new ideas and of putting these into widely used practice.“ Erst durch die Durchsetzung am Markt wird die neue Idee also zur Innovation. Innovationen liegen somit im „Sweet Spot“ von Technologie, Wirtschaft und Mensch. Eine Innovation zeichnet sich dadurch aus, dass sie technisch möglich, wirtschaftlich tragfähig und vom Menschen akzeptiert oder gar ersehnt ist (vgl. Kelley, T. & Kelley, D. 2015; Brown 2009).

Künstliche Intelligenz (KI) wird weithin zu den Schlüsseltechnologien gezählt, die sich künftig maßgeblich auf die Wettbewerbsfähigkeit zahlreicher Industrien auswirken werden (vgl. u.a. Die Bundesregierung 2018; Weber & Burchardt 2017). Als Branche mit einem immateriellen Produkt und als daten- und wissensbasierte Disziplin profitiert die Versicherungswirtschaft in besonderem Maße vom Einsatz Künstlicher Intelligenz. Datenbasierte Entscheidungen können durch den Einsatz von KI erleichtert und verbessert werden.

Aber was genau ist unter KI zu verstehen? In der KI-Forschung wird zwischen „starker“ und „schwacher“ KI unterschieden. Starke KI ist dem Menschen in allen Bereichen gleichgestellt oder überlegen, selbst auf dem Gebiet der emotionalen und der sozialen Intelligenz (vgl. Zabel 2020, S. 47; Buxmann & Schmidt 2018, S. 7). Es handelt sich daher um ein rein theoretisches Forschungsfeld. Die in der Praxis eingesetzten KI-Anwendungen sind sämtlich der schwachen KI zuzuordnen. (Schwache) KI umfasst smarte Mensch-Maschine-Interaktion und -Kollaboration zur effektiven Unterstützung von Problemlösungen zu einzelnen von Menschen formulierten Problemstellungen (vgl. Weber & Burchardt 2017, S. 29). Es geht also beim Einsatz von KI nicht darum, Menschen überflüssig zu machen, sondern sie bei bestimmten, abgegrenzten Problemstellungen bestmöglich und intelligent zu unterstützen (vgl. Völler 2020, S. 17f; Wahlster 2019, S. 55).

Wo KI für die Versicherungsbranche relevant ist

Im Wesentlichen zeigen sich daher drei Bereiche, in denen KI zur Weiterentwicklung der Assekuranz beitragen kann: Nahe am klassischen Kerngeschäft, bei der Transformation vom Regulierer zum Präventionshelfer und schließlich in der Bereitstellung von hochfrequent erlebbaren Mehrwerten. Im Kerngeschäft kann KI entlang der Wertschöpfung in unterschiedlichster Weise dazu beitragen, das Ergebnis zu verbessern. KI-Einsatz ermöglicht etwa in der Marktbearbeitung, das nächstbeste Produkt im Vertrieb zu identifizieren, Produkttarifierung zu verfeinern, Underwriting zu erleichtern, bei (nicht kritischen) Kundendialogen zu assistieren oder den Leistungs- bzw. Schadenprozess zu verbessern.

Prozesse und Entscheidungen können zudem datenbasiert unterstützt und beschleunigt werden, sowohl zum Vorteil des Kunden als auch zur Entlastung der Mitarbeiter. Die gewonnenen zeitlichen Spielräume können dort investiert werden, wo sie besonderen Mehrwert schaffen. Die persönliche und empathische Ansprache in einer emotionalen Krisensituation, etwa nach einem Schadenfall, bei der sich der Mitarbeiter Zeit für den Kunden nehmen kann, hat besonders starken Einfluss auf die Kundenzufriedenheit und -bindung (vgl. Kullmann & Welzel 2014). Bei solchen „critical cases“ macht der Mensch den Unterschied und bleibt auch perspektivisch der Maschine überlegen.

Zum Zweiten kann KI die Weiterentwicklung der Rolle der Versicherer von der traditionellen Aufgabe „Verstehen und Schützen“ hin zu „Vorhersagen und Verhindern“ unterstützen (Balasubramanian et al. 2018, S. 2; The Geneva Association 2018, S. 8). Mithilfe moderner Sensoren und Aktoren, einer entsprechenden Datenbasis und KI-Anwendungen kann sich der Versicherer vom Bezahler zum Kümmerer wandeln, der den Kunden vor negativen Erlebnissen bewahrt.

Dies mündet in den dritten und letzten Bereich, nämlich der Bereitstellung von hochfrequenten Mehrwerten. Bislang konzentrieren sich Kontakte zwischen Anbietern und Kunden i.d.R. auf den Vertragsabschluss und die jährliche Vertragsrechnung (Kinder & Brettel 2019, S. 3; Völler 2018, S. 15). Es wird prognostiziert, dass dies unter Einsatz von KI-Methoden in einen kontinuierlichen Kontaktzyklus umgewandelt werden kann.

Technologie allein reicht nicht

Diesen durchaus ambitionierten Erwartungen stehen ethische und rechtliche Risiken und die daraus resultierenden Einsatzhürden gegenüber. Innovationen sind auf das Wohlwollen und die Akzeptanz der Nutzer angewiesen. Nicht alles, was technologisch machbar und rechtlich zulässig ist, wird von den Kunden begrüßt, wie vor wenigen Jahren der digitale Gigant Google mit seinen „Google Glasses“ erfahren musste.

Diese Problematik ist auch bei KI zu berücksichtigen. Trotz zunehmender wertstiftender Kontakte der Kunden mit KI-Anwendungen im Alltag, beispielsweise bei KI-basierten Produktempfehlungen (next best offer) bei Amazon oder Musikvorschlägen „Dein Mix der Woche“ („Discover Weekly“) bei Spotify, ist bis dato eine grundlegende Skepsis gegenüber KI in der Gesellschaft spürbar (vgl. Knorre et al. 2020; European Commission 2017). Daher sollten sich Anbieter neben der Technologie intensiv auch mit der „weichen“ Seite von KI-basierten Innovationen auseinandersetzen und ein besonderes Augenmerk auf Akzeptanz und Ethik legen.

Beispielsweise sollten Versicherer ihre Kunden nicht nur im Sinne der Transparenz darüber informieren, welche Faktoren sich in den KI-Modellen auf ihre Prämie auswirken, sondern auch berücksichtigen, welche Parameter sozial akzeptiert sind. Die Studie von Müller-Peters (2017) zeigt, dass die Akzeptanz risikogerechter Tarifierungsmerkmale von deren mutmaßlicher Beeinflussbarkeit durch den Versicherten abhängt. So werden Nachlässe für vorsichtiges Fahren in der Kfz-Versicherung oder für Brandschutzmaßnahmen in der Wohngebäudeversicherung als gerecht empfunden.

Hingegen lehnt die Mehrheit der Befragten jene Tarifierungsmerkmale ab, die von der Lebenssituation abhängen oder schicksalsbehaftet sind, etwa die Häufigkeit von Nachtfahrten in der Kfz-Versicherung oder genetische Vorbelastungen in der Krankenversicherung. Sozial nicht akzeptierte oder ethisch nicht vertretbare Ansätze können so zum Scheitern einer Innovation am Markt führen.

Auch verschiedene Akteure, darunter die europäische Aufsichtsbehörde Eiopa, erwarten branchenspezifische Standards für den verantwortungsvollen KI-Einsatz in der Assekuranz. In den jüngst veröffentlichten „AI Governance Principles“ fordert die Eiopa (2021) insbesondere Transparenz und Erklärbarkeit, Fairness und den verantwortungsvollen Umgang mit ethischen Fragestellungen. Entlang der Wertschöpfungskette formuliert sie mögliche KI-Anwendungsfälle im Versicherungswesen und benennt zu jeder Anwendung sowohl Vorteile für den Verbraucher als auch die wichtigsten ethischen Fragen, die Anbieter berücksichtigen sollten.

Lesen Sie den vollständigen Beitrag in der November-Ausgabe der Versicherungswirtschaft.

Autorin: Prof. Dr. Michaele Völler, Leiterin der Forschungsstelle Versicherungsmarkt am ivw Köln der TH Köln.

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