Winfried Kretschmann: „Wir Grüne liegen schon lange und stabil auf den vorderen Plätzen, dann sollten wir jetzt auch auf Sieg spielen“

Winfried Kretschmann (B'90/Grüne), Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Quelle: Staatsministerium Baden-Württemberg

Er ist der erste grüne Ministerpräsident in der Geschichte der Bundesrepublik: Im März 2021 wurde Winfried Kretschmann für eine dritte Amtszeit gewählt. VWheute sprach im Sommerinterview über die politischen Eckpunkte der nächsten fünf Jahre und die Lehren aus der Corona-Pandemie.

VWheute: Sie sind im März für eine dritte Amtszeit als Ministerpräsident von Baden-Württemberg gewählt worden. Was sind Ihre politischen Prioritäten in den kommenden fünf Jahren?

Winfried Kretschmann: Es ist keine einfache Zeit, in der meine Regierung ihre Arbeit aufnimmt. Die Corona-Pandemie, der Klimawandel, die Digitalisierung, neue Wirtschaftsmodelle und der bröckelnde gesellschaftliche Zusammenhalt stellen uns vor große Herausforderungen. Aber so ist unsere Zeit. Und es ist die Zeit, unser Land zu erneuern. Wir müssen jetzt konsequent das Klima und die Artenvielfalt schützen, damit unsere Kinder und Enkelkinder auch morgen einen lebenswerten Planeten vorfinden. Wir müssen jetzt den Strukturwandel der Wirtschaft meistern, unseren Wohlstand erneuern und sichere Arbeitsplätze für morgen schaffen. Und wir müssen jetzt den Zusammenhalt unserer Gesellschaft stärken, damit wir auch morgen alle in Freiheit und Sicherheit leben können.

VWheute: Mit der neuen Amtszeit gehen Sie erneut mit der CDU eine Regierungskoalition ein. Was hat am Ende den Ausschlag für die Neuauflage gegeben und könnte dies ein Modell für eine Koalition auf Bundesebene geben?

Winfried Kretschmann: Unser Land steht ja vor großen Umbrüchen, ein „Weiter so“ verbietet sich jetzt. Mit diesem Bewusstsein sind wir Grünen und die CDU in die Koalitionsverhandlungen gegangen. Und heute ich kann sagen: Unser Vertrag ist gelungen. Wir haben ein Programm erarbeitet, mit dem wir die eben genannten Zukunftsaufgaben gemeinsam und mit aller Kraft angehen werden. Grüne und CDU wollen der Welt zeigen, wozu ein Hightech- und Industriestandort in Sachen Klimaschutz in der Lage ist. Und damit natürlich auch ein kopierfähiges Modell erstellen.

VWheute: Werfen wir einen kurzen Blick in den Bund: Mit Annalena Baerbock schicken die Grünen erstmals eine Kanzlerkandidatin ins Rennen: Ist Deutschland reif für eine grüne Bundeskanzlerin?

Winfried Kretschmann: Natürlich. Wir Grüne liegen schon lange und stabil auf den vorderen Plätzen, dann sollten wir jetzt auch auf Sieg spielen. Den Ehrgeiz sollten wir haben. Das ist schließlich die Liturgie des politischen Geschäfts. Und dass Annalena Baerbock Kanzlerin kann – daran habe ich gar keinen Zweifel.

VWheute: Kommen wir zu den aktuellen Themen: Corona hat Deutschland weiterhin im Griff – auch wenn die Zahlen jüngst deutlich sinken. Wie ist Baden-Württemberg insgesamt durch die Krise gekommen und was hätte womöglich besser gemacht werden können?

Winfried Kretschmann: Es gibt in dieser Pandemie nicht den großen Masterplan, auch wenn wir das natürlich alle gerne hätten. Auch hierzulande haben wir mal falsche Richtungen eingeschlagen, mussten Entscheidungen korrigieren, auch wenn immer nach bestem Wissen entschieden wird. Wir sind dem Virus etwa eine ganze Zeit lang hinterhergerannt, statt vor der Entwicklung zu sein. Ein Fehler war auch die zentrale Hotline bei der Terminvergabe für die Impfungen. Aber schlimmer als ein Fehler ist es, wenn man aus Angst vor einem Fehler gar nicht oder zu spät handelt. Wir werden unsere Lehren aus der Pandemie ziehen.

VWheute: Bundekanzlerin Angela Merkel warnte jüngst vor neuen Pandemien: Welche Lehren kann die Politik aus Ihrer Sicht aus der Coronakrise lernen?

Winfried Kretschmann: Die Bewältigung einer Pandemie ist ein sehr schwieriger Balanceakt. Der Lockdown light im November etwa war falsch, die Einschränkungen gingen nicht weit genug. Gleichzeitig wären mehr Einschränkungen auf wenig Akzeptanz in der Bevölkerung gestoßen. Und von Teilen der Wissenschaft hatten wir die Ansage, dass unsere Maßnahmen ausreichen könnten. Solche Fehler müssen aufgearbeitet werden. Deswegen würde ich dem Bundesrat empfehlen, umgehend eine Enquete-Kommission einzusetzen. Die sollte dann ganz genau alle Fehler durchkämmen und feststellen, welche Konsequenzen wir aus der Corona-Pandemie zu ziehen haben.

VWheute: Schauen wir auf landespolitische Themen: Ein Schwerpunkt Ihres Regierungsprogramms ist das Klima: Welche Ziele verfolgt Ihre Landesregierung in den kommenden fünf Jahren auf diesem Gebiet und welche Weichen wollen Sie in den kommenden Wochen und Monaten für ein besseres Klima stellen?

Winfried Kretschmann: Wer das Klima schützt, der schützt unsere Freiheit. Das ist der Kern des epochalen Urteils, das das Bundesverfassungsgericht kürzlich gefällt hat. Denn die Versäumnisse von heute richten große Schäden für die Freiheit nachfolgender Generationen an. Deswegen werden wir umgehend ein umfassendes Sofortprogramm für den Klimaschutz auflegen. Etwa eine Offensive bei der Windkraft und der Fotovoltaik auf Landesflächen oder eine Solarpflicht für alle neuen Gebäude oder bei Dachsanierungen. Im Bund setzen wir uns für den Ausstieg aus der Kohle bis 2030 ein und für einen höheren CO2-Preis, der endlich eine deutliche Lenkungswirkung entfaltet. Und wir sind dabei, hierzulande das Auto noch einmal neu zu erfinden – emissionsfrei und intelligent.

VWheute: Kurzer Blick auf die Versicherungsbranche: Baden-Württemberg ist – nach Bayern und NRW – der drittgrößte Versicherungsstandort in Deutschland. Wo sehen Sie den Finanzplatz Stuttgart derzeit im bundesweiten und internationalen Vergleich und wie wollen Sie diesen in den kommenden fünf Jahren weiter fördern?

Winfried Kretschmann: Unsere Versicherungsbranche ist vielfältig, besitzt eine lange Tradition und spielt national und international eine wichtige Rolle. Das alles führt zu einer bemerkenswerten Stabilität unserer Versicherungswirtschaft. Und es fördert eine große Aufgeschlossenheit zur Innovation – etwa bei Engagement der Branche beim aktuellen Projekt der Standortinitiative Stuttgart Financial, mit dem der Finanzplatz Stuttgart als deutschlandweit führend im Bereich Sustainability und Sustainable Finance positioniert werden soll. Natürlich begrüßt meine Landesregierung dieses Engagement, wir haben große Erwartungen an dieses Projekt. Auch wollen wir die Innovationsfähigkeit des Finanzplatzes Stuttgart mehr sichtbar machen, indem wir etwa Start-ups und Fintechs gezielt unterstützen.

Die Fragen stellte VWheute-Redakteur Tobias Daniel.

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