Internationalisierung: Worauf Versicherer bei der Expansion ins Ausland achten müssen

Schon lange sind Unternehmen beim Absatz ihrer Dienstleistungen und Produkte nicht mehr auf ihren Heimatmarkt beschränkt. Eine Internationalisierung innerhalb der EU bietet sich insbesondere an, weil die Tätigkeit in anderen Mitgliedstaaten über die Dienstleistungsfreiheit ohne große Hürden möglich ist und etwa die Bedingungen für den Vertrieb der Produkte durch die Mindestharmonisierung der Versicherungsvertriebsrichtlinie (IDD) in der Regel vergleichbar sind. Eine Fachanalyse.

Gleichzeitig bietet die steigende Internetaffinität und -akzeptanz der Kunden sowie die durch Covid-19 beschleunigte Digitalisierung die Möglichkeit, sich in anderen Märkten mit effizienten Online-Direktabschlüssen frühzeitig zu positionieren, um Wachstumsziele erreichen zu können.

Es empfiehlt sich, jeweils sechs typische Dimensionen zu betrachten: 1. ökonomische Basisdaten/Makroperspektive, 2. Versicherungsmarkt, Wettbewerb und Online-Affinität, 3. Produktkompatibilität und Kundenpräferenzen, 4. Regulatorische, rechtliche und steuerliche Fragestellungen, 5. digitaler Vertrieb, 6. Wirtschaftlichkeit/Potenzial.

1. Ökonomische Basisdaten/Makroperspektive

Bei der Auswahl eines möglichen Wachstumsmarkts sollte sich ein Versicherer zuerst ein Gesamtbild verschaffen. Selbst in (West-)Europa weisen verschiedene Länder signifikante Unterschiede bei ökonomischen Rahmendaten auf. Nicht nur Bevölkerungsentwicklung und -zusammensetzung, sondern auch Haushaltseinkommen, Kaufkraft, Erwerbstätigkeit, Internetverbreitung und andere Faktoren beeinflussen die Größe und Attraktivität eines Marktes. Daneben bestehen kulturelle Einflussfaktoren, die unbedingt bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden sollten.

2. Versicherungsmarkt, Wettbewerb und Online-Affinität

Neben ökonomischen Faktoren ist bei der Entscheidung für einen Markteintritt auch das bestehende Versicherungsumfeld im ausgewählten Land zu berücksichtigen. Dabei ist ein differenziertes Vorgehen entlang verschiedener Dimensionen, z.B. (Sub-)Sparten, Vertriebswege und Kundensegmente zu empfehlen. Gerade in Abhängigkeit von der angestrebten Positionierung sollte das direkte Wettbewerbsumfeld umfassend geprüft werden, um bei Eintritt auf eine klare Differenzierung abzuzielen und frühzeitig kompetitive Dynamiken zu verstehen.

Neben der strategischen Evaluation des Wettbewerbsumfeldes kann auch eine Analyse der Suchdaten einer Suchmaschine wertvolle Einblicke in den Zielmarkt/Region geben und somit die Eintrittsstrategie und auch die Marktpriorisierung beeinflussen. Suchdaten können darüber hinaus Einblicke in den Status quo bzw. die Veränderung der Nachfrage über einen bestimmten Zeitraum für ein Produkt und in die Wettbewerbssituation am Markt geben. Typischerweise werden bei einer solchen Analyse folgende Dimensionen als Erstes betrachtet: a) Marktgröße, b) Kostenstruktur, c) Wachstumspotenzial, d) Wettbewerbsdichte, e) Online-Affinität.

Die Analysemethoden, um einen Markt und den Wettbewerb besser zu verstehen, sind vielfältig und sollten immer auf die individuellen Fragestellungen des Unternehmens zugeschnitten werden. Da die Verfügbarkeit solcher Analysen nicht immer gegeben ist, können öffentlich zugängliche Plattformen wie etwa „Google Trends” von großem Nutzen sein. Diese ermöglichen zahlreiche Analysen, die eine Charakterisierung des Online-Marktes erlauben (z.B.: nach welchen Stichwörtern wird in der Kategorie „Haftpflichtversicherung” in Land X gesucht?) und sind eine gute Grundlage für die weitere strategische Planung.

3. Produktkompatibilität und Kundenpräferenzen

Um einen erfolgreichen Markteintritt im Ausland zu planen, ist bei der Auswahl und Planung essenziell, den potenziellen Zielkunden mit seinen Anforderungen an das Produkt, sein Kaufverhalten und seine Präferenzen möglichst gut zu entschlüsseln. Diese Analyse kann dazu führen, dass sich die Priorisierung der internationalen Märkte ändert, da manche Anforderungen oder Besonderheiten eines Zielmarktes nicht so einfach umgesetzt werden können.

Produkt: Beispielsweise kann eine Detailanalyse ergeben, dass ein bestimmtes Produkt, das im Zielland besonders nachgefragt wird, noch gar nicht im Produktportfolio existiert. So werden auf dem französischen Markt bestimmte Produktmodule im Rahmen der Hausratversicherung („assurance multirisques habitation”) angeboten, die man vom deutschen Versicherungsmarkt nicht kennt.

Kaufverhalten: Der Weg zu einer Kaufentscheidung wird immer komplexer. Das macht es immer schwieriger zu verstehen, welche Kontaktpunkte es gibt und wie diese die Kaufentscheidung des Konsumenten beeinflussen. Allerdings ist es gerade im Kontext einer Internationalisierungsstrategie wichtig zu verstehen, wie sich der „path-to-purchase” bei einem Kunden in einem Zielmarkt gestaltet. Denn auch hieraus kann abgeleitet werden, mit welchem Ansatz der Markt betreten werden sollte und auch, welche Herausforderungen entstehen können.

4. Regulatorische, rechtliche und steuerliche Fragestellungen

Ferner sind die infrage kommenden Märkte auch im Hinblick auf die Regulatorik und sonstigen rechtlichen Anforderungen zu untersuchen. Dabei sind insbesondere die drei folgenden Themenblöcke relevant:

a) Niederlassungsfreiheit/Dienstleistungsfreiheit: So weit es die Frage betrifft, ob das betreffende Versicherungsunternehmen überhaupt Versicherungsgeschäft im Zielland zeichnen darf, kann im EU-Raum die Niederlassungs- bzw. Dienstleistungsfreiheit genutzt werden. Für eine aufwandsarme Internationalisierung durch Online-Geschäft kommt in erster Linie die Dienstleistungsfreiheit in Betracht. Im Rahmen des europäischen Passporting-Systems ist lediglich eine Notifikation der Sitzlandsbehörde, d.h. in Deutschland der Bafin, erforderlich. Diese benachrichtigt daraufhin die Aufsichtsbehörde im jeweiligen Zielland. Der Aufwand für die Etablierung einer Niederlassung erscheint in der Regel erst dann ratsam, wenn das Geschäft eine Infrastruktur/Personal im Zielland erfordert.

b) Regulatorische Vorgaben für den Vertrieb: Die regulatorischen Vorgaben für den Vertrieb sind eingehend zu prüfen. Zwar wurde durch die Versicherungsvermittlerrichtlinie („IMD”) und die Versicherungsvertriebsrichtlinie („IDD”) eine Minimalharmonisierung in diesem Bereich erreicht. Allerdings hindert dies die einzelnen Staaten nicht daran, schärfere Bestimmungen zu erlassen. In Frankreich existiert – im Gegensatz zu Deutschland – etwa keine Möglichkeit eines Beratungsverzichts im Online-Geschäft, d.h. es muss auch dort grundsätzlich beraten werden.

c) Anpassung der Bedingungen an lokales Recht: Schließlich sind die vertraglichen Bestimmungen eines Produkts nach der sogenannten ROM I-Verordnung auf die Gegebenheiten des lokalen Versicherungsvertragsrechts des Ziellandes anzupassen bzw. muss das lokale Recht beim Design eines neuen Produkts und dem Abfassen der Allgemeinen Versicherungsbedingungen berücksichtigt werden. Hierbei ist es im Regelfall nicht ausreichend, die in den AVB genannten Paragrafen auszuwechseln, sondern es bedarf einer tiefer gehenden Analyse, weil einige Regelungsbereiche in den anderen Staaten ggf. gänzlich anders als in Deutschland ausgestaltet sind.

5. Digitaler Vertrieb

Nach eingehender Analyse zur Identifikation geeigneter Märkte ist der nächste Schritt die Planung einer Vertriebsstrategie für das Zielland. Zum einen sind hier die lokalen regulatorischen Anforderungen sowie die lokalen Kundenpräferenzen und Anforderungen an den Kaufprozess zu berücksichtigen. Auf Basis dieser Daten kann dann eine hybride (online + offline) oder eine reine Online-Vertriebsstrategie definiert werden. Gerade wenn es sich um einen kompletten Neueintritt (ohne bisherige ‚physische‘ Präsenz im Markt) geht, bietet sich die Wahl einer Onlinestrategie an, da diese mit verhältnismäßig geringem Aufwand getestet beziehungsweise implementiert werden kann. Basierend auf diesen ersten Erfahrungen können dann weitere Schritte geplant und umgesetzt werden.

6. Wirtschaftlichkeit und Potenzial

Die Entscheidung für internationales Wachstum muss grundsätzlich auch ökonomisch Sinn machen und auf betriebswirtschaftliche Ziele in Verbindung zur Strategie einzahlen. Dafür sollte das adressierbare Potenzial in einem ausgewählten Markt betrachtet werden, um einen Blick auf finanzielle Kenngrößen wie Umsatz und Profitabilität zu erlangen. Nur eine ökonomisch tragbare Entscheidung mit einem attraktiven Verhältnis von Investitionserfordernissen, kalkulierbaren Risiken und letztlich überwiegendem finanziellen Nutzen kann die Grundlage für eine erfolgreiche Internationalisierung sein.

Fazit

Die Dienstleistungsfreiheit und die fortschreitende Harmonisierung regulatorischer Rahmenbedingungen bieten für Versicherungsunternehmen Chancen für eine aufwandsarme Internationalisierung im EU-Ausland, insbesondere über das Online-Geschäft. Eine unternehmensindividuelle Analyse kann dabei helfen, ausgehend von einem erfolgreichen Geschäftsmodell im Inland, mögliche Wachstumspotenziale im Ausland zu identifizieren und die hierfür erforderlichen Schritte zu definieren. Insbesondere die Nutzung von Suchmaschinendaten kann dabei eine entscheidende Rolle spielen. Eine erfolgreiche internationale Wachstumsstrategieentwicklung bei Versicherungen erfordert auch im EU-Raum die Kombination von Strategiekompetenz mit detaillierter fachlicher Produkt- und Regulatorikkompetenz. Unternehmen, die bereits in Vergangenheit über eine Internationalisierung nachgedacht haben, sollten Wachstumspotenziale in Auslandsmärkten prüfen und sich in wachsenden Märkten frühzeitig positionieren.

Autor: Dr. Gero Matouschek, Partner Strategy&; Christian Lippke, Manager Strategy&; Wolf Kindervater, Rechtsanwalt PwC Legal