BFH fällt richtungsweisendes Urteil
Mit Urteil vom 5. Juni 2024 (Az: I R 3/22) hat der Bundesfinanzhof erstmals zur Bestimmung des steuerlichen Dotationskapitals einer Versicherungsbetriebsstätte höchstrichterlich Stellung bezogen und ein für die gesamte Versicherungswirtschaft erfreuliches Urteil gefällt. Das Urteil dürfte für jede deutsche Versicherungsbetriebsstätte eines ausländischen Sachversicherers direkte Bedeutung haben. Dr. Oliver Busch berichtet.
Mit Inkrafttreten der Betriebsstättengewinnaufteilungsverordnung (BsGaV) im Jahr 2015 hat der Gesetzgeber die Bestimmung des Dotationskapitals für Versicherungsbetriebsstätten für steuerliche Zwecke erstmals verbindlich geregelt, und zwar in § 25 BsGaV für inländische und in § 26 BsGaV für ausländische Versicherungsbetriebsstätten. Diese Neuregelungen haben in der Praxis vielfältige Anwendungsfragen aufgeworfen. Verschärfend trat hinzu, dass die Finanzverwaltung die neuen Regelungen in den sog. Verwaltungsgrundsätzen Betriebsstättengewinnaufteilung (VWG BsGa) sehr profiskalisch ausgelegt hat.
Mit Urteil vom 5. Juni 2024 (Az: I R 3/22), das Ende September veröffentlicht worden ist, hat der Bundesfinanzhof (BFH) nun erstmals zur Bestimmung des steuerlichen Dotationskapitals einer Versicherungsbetriebsstätte höchstrichterlich Stellung bezogen und ein für die gesamte Versicherungswirtschaft sehr erfreuliches Urteil gefällt. Das Urteil dürfte für jede deutsche Versicherungsbetriebsstätte eines ausländischen Sachversicherungsunternehmens direkte Bedeutung haben.
Hauptstreitpunkt des Verfahrens war die Bestimmung des Dotationskapitals einer inländischen Versicherungsbetriebsstätte und damit die Anwendung von § 25 BsGaV. Nach dieser Norm sind einer deutschen Versicherungsbetriebsstätte zunächst anteilig Kapitalanlagen des Gesamtversicherungsunternehmens zuzuordnen, und zwar proportional zu ihrem Anteil an den versicherungstechnischen Rückstellungen (modifizierte Kapitalaufteilungsmethode für Versicherungsunternehmen). In einem zweiten Schritt sind von diesen zugeordneten Vermögenswerten die versicherungsspezifischen Rückstellungen und Verbindlichkeiten nach deutschem Handelsrecht (HGB) abzuziehen. Da die HGB-Werte der vt. Rückstellungen aufgrund der konservativen Rechnungslegung in Deutschland in der Regel höher ausfallen als unter IFRS (Stichwort: Schwankungsrückstellung), ergibt sich bei Sachversicherungsunternehmen regelmäßig ein negatives Dotationskapital (vgl. für ein Zahlenbeispiel Busch, IStR 2014, 757). Dies war auch in Urteilsfall so.
§ 1 Abs. 5 Satz 2 AStG fordert, dass die Betriebsstätte steuerlich wie ein eigenständiges und unabhängiges Unternehmen zu behandeln ist. Mit Verweis auf diese Norm argumentierte der Betriebsprüfer für das Streitjahr 2015, dass ein negatives Dotationskapital steuerlich nicht akzeptiert werden könne, da die Versicherungsbetriebsstätte als ein gedachtes selbstständiges Versicherungsunternehmen mit einem negativen Eigenkapital kein Versicherungsgeschäft betreiben könnte. Daher sei gemäß § 25 Abs. 3 Satz 2 BsGaV und Rn. 320 VWG BsGa bei der deutschen Versicherungsbetriebsstätte zumindest das aufsichtsrechtliche Mindestkapital anzusetzen (Mindestkapitalausstattungsmethode). Um dieses Mindestkapital zu erreichen, seien der inländischen Versicherungsbetriebsstätte zusätzliche Kapitalanlagen auf der Aktivseite der Hilfs- und Nebenrechnung (§ 3 BsGaV) zuzuordnen. Im Ergebnis ergab sich eine steuerliche Hinzurechnung von zusätzlichem Kapitalanlageergebnis in mittlerer zweistelliger Millionenhöhe. Diese Einkommensanpassung führte direkt zu Doppelbesteuerung, weil das nach der Betriebsprüfung zusätzlich in Deutschland zu versteuernde Kapitalanlageergebnis bereits in den anderen europäischen Ländern versteuert worden war.
Gegen diese Einkommensanpassung erhob PwC als Prozessbevollmächtigte im Namen der Steuerpflichtigen Klage. Diese Klage war nun mit dem höchstrichterlichen BFH-Urteil vom 5. Juni 2024 auf ganzer Linie erfolgreich. Das Urteil strahlt auf alle ausländischen Sachversicherungsunternehmen mit deutscher Betriebsstätte aus, die sich auf diese höchstrichterliche Entscheidung berufen können.
In dem Urteil stellt der BFH fest, dass § 25 BsGaV entgegen der Auffassung der Finanzverwaltung nicht die Anwendung von zwei Methoden vorsieht. Die in § 25 Abs. 3 Satz 2 BsGaV genannte Mindestkapitalausstattungsmethode kommt nur bei Anwendung der Öffnungsklausel zum Tragen, nämlich wenn der Steuerpflichtige eine andere Methode als die Kapitalaufteilungsmethode (§ 25 Abs. 1 und 2 BsGaV) anwendet, die als Regelmethode gesetzt ist. Dies gilt selbst dann, wenn nach Anwendung der Kapitalaufteilungsmethode wegen des Ansatzes einer Schwankungsrückstellung (§ 29 RechVersV) das steuerliche Dotationskapital der Versicherungsbetriebsstätte auf Basis von HGB-Werten negativ sein sollte. Der BFH begründet diese Ansicht anhand einer Auslegung nach dem Wortlaut, nach der Gesetzessystematik und anhand der Gesetzesmaterialien (vgl. insbesondere die Verordnungsbegründung in BR-Drucksache 401/14, S. 119, die in Bezug auf die Mindestkapitalausstattungsmethode von einer „Untergrenze für die Anwendung der Öffnungsklausel“ spricht). Zudem droht, so der BFH, bei Ansatz der Mindestkapitalausstattungsmethode regelmäßig Doppelbesteuerung. Denn wenn jedes Land den Ansatz des regulatorischen Mindestkapitals einfordern würde, könnten diese Kapitalien das tatsächlich verfügbare Eigenkapital überschreiten, da gerade die Betriebsstättenstruktur zu Risikopooling und Diversifikationseffekten führt, die den aufsichtsrechtlichen Kapitalbedarf des Gesamtversicherungsunternehmens mindern.
Über diese Frage hinaus behandelt das Urteil zwei weitere Aspekte der Bestimmung des Dotationskapitals. Dies betrifft zum einen die Frage, ob und wann der Steuerpflichtige sein Dotationskapital anhand von Jahresdurchschnittswerten (= arithmetisches Mittel aus Jahresanfangs- und Jahresendwerten) ermitteln darf. Grundsätzlich ist das Dotationskapital nur anhand von Jahresanfangswerten zu ermitteln. Hiervon darf und muss im Grunde abgewichen werden, sofern unterjährig eine „erhebliche“ Veränderung der Wertverhältnisse eintritt. Hierauf berief sich die Steuerpflichtige. Allerdings hat die Finanzverwaltung die Schwelle der „Erheblichkeit“ relativ hoch angelegt und fordert in Rn. 322 VWG BsGa, dass der Wert im Jahresverlauf um mindestens zwei Mio. Euro und 30% vom ursprünglichen Betrag abweichen muss. Die Abweichung betrug im Urteilsfall zwar mehr als 100 Millionen Euro, aber prozentual gesehen nur 29,75 Prozent. Hierzu hat der BFH nun festgestellt, dass eine solche Abweichung dennoch als „erheblich“ einzustufen ist, zumal die damaligen Gesetzesmaterialien für die Erheblichkeit lediglich eine prozentuale Abweichungsschwelle von 20% definiert hatten (vgl. BR-Drucks 401/14, Seite 79).
Schließlich hatte der BFH noch darüber zu befinden, welche Vermögenswerte in dem ersten Schritt der Anwendung der Kapitalaufteilungsmethode als Kapitalanlagen zu verteilen sind, die die vt. Rückstellungen und das Eigenkapital bedecken (§ 25 Abs. 1 Satz 1 BsGaV). Die Finanzverwaltung will dies auf Anlagewerte mit Kapitalrendite beschränkt wissen und erlaubt darüber hinaus in Rn. 315 VWG BsGa lediglich den Einbezug der „Forderungen aus dem selbst abgeschlossenen Versicherungsgeschäft“ (Bilanzposition E.I. gemäß Formblatt 1 der RechVersV). Auch dieser engen Sichtweise erteilt der BFH nun eine klare Absage. Solange die Vermögenswerte nach aufsichtsrechtlichen Vorschriften als bedeckungsfähig behandelt werden, können sie in die Kapitalaufteilung einbezogen werden.
Das Urteil ist eine überaus gute Botschaft für alle Sachversicherungsunternehmen und beendet eine jahrelange Rechtsunsicherheit in Bezug auf die Bestimmung des Dotationskapitals. Auch wenn mit diesem Urteil drei wichtige Anwendungsfragen geklärt sind, zeigt sich in der Praxis, dass noch zahlreiche weitere Streitfragen in Bezug auf die neuen Regelungen zur Bestimmung des Dotationskapitals bestehen. Dies betrifft z.B. die Höhe eines „aus betriebswirtschaftlichen Gründen erforderlichen“ Dotationskapitals in Outboundfällen (§ 26 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 13 Abs. 1 BsGaV) und die genaue Ermittlung der
durchschnittlichen Kapitalanlagenrendite, die nach § 27 Abs. 2 BsGaV auf die indirekt zuordenbaren Kapitalanlagen anzuwenden ist.
Das Urteil darf jedenfalls als Ermutigung für die Steuerpflichtigen verstanden werden, mit überzeugenden rechtlichen und ökonomischen Argumenten auch bei komplexen versicherungsspezifischen Fragestellungen vor Gericht erfolgreich sein zu können.
Autor: Dr. Oliver Busch, StB, Partner der PwC GmbH WPG und Prozessbevollmächtigter der Klägerin